Das große Zeitabenteuer
eifrig.
Das Dach war nicht leicht zu erreichen, aber Lafayette schaffte es doch irgendwie. Er ruhte sich fünf Minuten am Dachrand aus, faßte dann nach der dicksten Ranke und rutschte daran nach unten über den Überhang. Seine Füße fanden keinen Halt, deshalb glitt er etwas tiefer; hier gab es vermutlich weniger Efeu, weil er abgeschnitten wurde, bevor er die Dachtraufe überwucherte.
O'Leary rutschte einen weiteren halben Meter nach unten, so daß er den Dachrand in Kinnhöhe hatte. Auch diesmal fanden seine Füße keinen Halt. Seine Hände schienen allmählich zu erstarren. Er glitt tiefer und konnte endlich unter den Überhang sehen: die Außenmauer des Gebäudes war einen Meter weit von ihm entfernt – und völlig kahl. Zwei Meter links von ihm lag ein Fenster, aber die Fensterläden waren geschlossen, und es hätte O'Leary nichts genützt, selbst wenn es offengestanden hätte.
Lafayette wechselte den Griff und arbeitete sich allmählich nach links vor. Plötzlich fiel ihm ein, daß unter ihm dreißig oder fünfunddreißig Meter Nachtluft lagen. Sollte er auf diese Weise enden? Er holte verzweifelt aus und brachte es fertig, an den Fensterladen zu treten. Außer Reichweite; das würde er nie schaffen. Konnte er zurück? Er kletterte nach oben, spürte den Dachrand an den Handgelenken und konnte nicht weiter. Vielleicht fünf Minuten, dachte er. Dann stürze ich ab…
Plötzlich wurden die Fensterläden aufgestoßen. Ein blasses Gesicht zwischen dunklen Locken sah ängstlich nach oben.
»Daphne!« keuchte O'Leary. »Hilfe!«
»Sir Lafayette!« rief sie erschrocken und breitete die Arme aus. »Können Sie … können Sie mich erreichen?«
O'Leary nahm seine Kräfte zusammen und warf sich nach vorn; Daphne griff nach seinem Fuß, behielt aber nur den Schuh in der Hand. Sie legte ihn auf die Fensterbank, strich sich die Haare aus dem Gesicht und beugte sich weiter nach draußen.
»Noch mal!« sagte sie. O'Leary holte Luft, beschrieb einen weiten Bogen und kam Daphne so nahe, daß sie seinen Knöchel fassen konnte. Sie beugte sich zurück, zog sein Bein über die Fensterbank und griff dann nach dem anderen; O'Leary mußte loslassen und sackte nach unten. Er prallte mit dem Rücken an die Mauer, richtete sich wie betäubt auf und bekam das Fensterbrett zu fassen. Daphne griff nach seinem Arm und zog ihn herein.
»Du bist… stark für ein … Mädchen«, brachte O'Leary mühsam heraus. »Danke.«
»Das kommt davon, wenn man den ganzen Tag arbeitet, Sir«, antwortete Daphne atemlos. »Haben Sie sich wehgetan?«
»Nein, gar nicht. Wie kommst du zufällig hierher?«
»Ich habe den Lärm gehört und bin zu Nicodaeus gelaufen, um mich nach der Ursache zu erkundigen. Die Soldaten waren alle schrecklich wütend und rannten fluchend durcheinander. Nicodaeus hat mir zugeflüstert, Sie seien übers Balkongeländer geklettert. Ich dachte, ich könnte Sie vielleicht draußen sehen und …«
»Du hast mir das Leben gerettet, Daphne!« Er runzelte die Stirn, als ihm die letzte Unterhaltung mit ihr einfiel. »Aber … aber warum sitzt du nicht im Gefängnis?«
»König Goruble hat mir die Strafe erlassen, weil ein Kind wie ich unmöglich mitschuldig sein könne.«
»Na, dann ist das alte Scheusal wenigstens in dieser Beziehung menschlich.« O'Leary rieb sich die schmerzenden Handgelenke. »Hör zu, ich kann hier nicht lange bleiben. Ich habe eben erst von Adorannes Entführung gehört und …« Er starrte Daphne an. »Du hast doch nicht etwa gedacht, ich hätte etwas damit zu tun, oder?«
»Ich … ich wußte es nicht, Sir. Es freut mich, wenn Sie nichts damit zu schaffen haben. Aber die Prinzessin ist so schön, und ein Gentleman wie Sie könnte doch …«
»Ein Gentleman wie ich hat es nicht nötig, ein Mädchen zu entführen. Aber ich verfolge bereits eine Spur. Jetzt brauche ich nur noch den Eingang zu den Geheimtunnels, dann beginnt die Jagd.«
»Geheimtunnels?« fragte Daphne verständnislos.
»Natürlich; sie ziehen sich durch den gesamten Palast. Die Eingänge befinden sich in allen wichtigen Räumen. Wo sind wir jetzt?«
»In einem unbenutzten Lagerraum gegenüber dem Appartement des Earls von Nussex.«
»Ist der hohe Herr da?«
»Nein, Sir; er befehligt einen Zug Soldaten auf der Suche nach der Prinzessin.«
»Ausgezeichnet, das genügt.«
O'Leary griff nach seinem Schuh, zog ihn an und folgte Daphne in den Korridor hinaus. Sie führte ihn zu einer Tür, die sie mit einem Schlüssel aus dem
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