Das gruene Gewissen
berichtet. Das ist das Problem.
Die Argumente der anderen
Die steigenden Zahlen des RKI zeigen, dass die Durchimpfungsrate weiter abnimmt. Und trotzdem geht man bewusst ein Risiko ein, weil man das Impfen für schädlich hält. Freunde aus Lübeck berichten von Pekip-Kursen, in denen zwei Drittel der Frauen angeben, komplett auf das Impfen zu verzichten. Die Gründe dafür reichen von den unerwünschten Folgen wie Diabetes bis hin zu einem generellen Misstrauen gegenüber der modernen Pharmakologie. Auch unter Ärzten gibt es die Angst vor Impfkomplikationen. Aber was sind diese Komplikationen gemessen an den Komplikationen des Nichtimpfens?
In der Bundesrepublik Deutschland bestand bis in die siebziger Jahre für Pocken eine Impfpflicht. Als die Pocken 1979 von der WHO als ausgerottet erklärt wurden, stellte man diese Pflicht ein. In der DDR behielt man die Impfpflicht für Pocken bei, was man in meiner Generation unter anderem an den kleinen kreisförmigen Narben am Oberarm sehen kann, die bei dem einen oder anderen im Sommer zum Vorschein kommen.
Heute gibt es keine Impfpflicht mehr, sondern lediglich die Empfehlung, insbesondere Säuglinge und Kleinkinder in den ersten beiden Lebensjahren gegen die wichtigsten Krankheiten impfen zu lassen beziehungsweise bei Jugendlichen versäumte Impfungen bis zum 18. Lebensjahr nachzuholen. Es ist eine Sisyphosarbeit, aber alles andere wäre mit dem Auftrag der wissenschaftlichen Politikberatung auch nicht vereinbar, sagt ter Meulen zum Abschluss. Den Erfolg der Beratung kann man bei diesem wie vielen anderen Themen nicht an der Umsetzung messen, sondern nur an der Frage, ob die Alternativen den parlamentarischen Entscheidungsträgern rechtzeitig bekannt waren. Entscheiden muss dann der Souverän.
Es erscheint paradox: Wir haben begonnen, die Gefahren der Natur nicht nur zu vergessen, sondern massiv in Frage zu stellen. Überall sind wir darauf bedacht, durch Sport, bessere Ernährung, sichere Technologien Risiken von uns fernzuhalten – hier gehen wir sie bewusst ein. Dieselbe Gesellschaft, die Jugendämter zum Intervenieren in Familien mit vermuteter Verletzung der Fürsorgepflicht, Alkoholismus oder Gewalt anhält, die eine allgemeine Schulpflicht verteidigt und sich den Schutz Heranwachsender vor passivem Rauchen auf die Fahnen geschrieben hat, nimmt die Gefahr für Kleinstkinder in Kauf.
Wer sich indes die Kampagnen von Impfgegnern ansieht, findet dieselben Argumente wie in vielen anderen Technologiefeldern. Immer sind es Feindbilder. So gut wie nie geht es um empirisch erfahrene Komplikationen, sondern um das generelle Misstrauen gegenüber dem technischen Komplex und dessen schädlicherWirkung auf das vermeintlich „Natürliche“. Und es geht um die Profite der Pharmakonzerne. Der Kreuzzug gegen die Medizin ist ein Vertrauensverlust gegen die moderne Welt, aber auch gegen das Profitstreben, das sich als Topos in nichts von der Wahrnehmung großer Energieversorger oder gentechnisch veränderter Nutzpflanzen unterscheidet.
Am Beispiel der Influenza-Impfungen, aber auch bei der Schweinegrippe kann man zeigen, wie der Vorwurf in beide Richtungen ging. Hätte die Industrie keinen Impfstoff produziert, wäre sie der Vorsorgepflicht nicht nachgekommen. Als sie ihn herstellte und er nicht abgerufen wurde, lautete der Vorwurf, man habe vor allem Geld machen wollen. So kann man es drehen und wenden, wie man will. Am Ende bleiben die Gegenstände der wissenschaftlich-technischen Welt von einem Gefühl des Misstrauens behaftet, und sie können dieses Stigma aus eigener Kraft kaum abschütteln. Die Argumente der Gegner haben einen entscheidenden Vorsprung: Sie setzen auf Gefühlen auf, für die es keine Kategorien wie richtig und falsch gibt.
Vor allem aber ist man geneigt, unsere Maßstäbe, die wir in punkto Umwelt und Natur gern als beispielgebend für die Welt betrachten, im Lichte der Bedingungen anderswo zu prüfen. Die Tuberkulose gehört zu jenen Infektionskrankheiten, die in Afghanistan gesehen werden. Jedes Jahr stirbt in Afrika eine Million Kinder an den Folgen der Malaria. Würden wir den Einsatz von Antibiotika im Sinne eines Gedankenexperiments mit dem Hinweis zurückdrängen, dass wir widernatürlich handeln?
Im Kreißsaal
In seinem 1912 veröffentlichten Gedichtband Morgue („Totenhaus“) hat der Lyriker Gottfried Benn, bekanntermaßen selbst praktizierender Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin, das Bild eines modernen Heilungs- und
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