Das gruene Gewissen
Regionen, allein wegen der Dichte der Geburtshäuser, aber auch wegen einer besonderen Haltung der Eltern in der Stadt. Echte „Hausgeburten“, also Entbindungen in den eigenen vier Wänden, auf das Nötigste reduziert, sind davon nur die wenigsten. Man spricht in der Regel von außerklinischen Geburten, die den Vorteil besserer Erste-Hilfe-Maßnahmen haben. Beim Berliner Westend-Krankenhaus befindet sich das Geburtshaus für den Fall der Fälle unmittelbar neben der Klinik. Aber auch die Kliniken selbst neigen mittlerweile wieder zum Einsatz von Hebammen in den Kreißsälen.
In Deutschland waren es im Jahr 2010 immerhin 9045 dokumentierte außerklinisch geborene Kinder – ein vergleichsweise geringer Teil von 680000 Neugeborenen insgesamt. Der Trend aber zeigt nach oben: Während die Geburtenzahlen im letzten Jahrzehnt abgenommen haben, sind die außerklinischen Geburten angestiegen. 85 Insgesamt ist es also noch ein Nischenphänomen, das jedoch sehr viel über unsere Zeit und die Frage verrät, wie wir Verantwortung gegenüber uns und der Natur definieren. Es ist kein Zufall, dass das, was wenige tun, dennoch im Mittelpunkt der Wahrnehmung steht, nicht zuletzt deshalb, weil entsprechende Vorstellungen auch durch die Hebammen transportiert werden.
Vielleicht verhält es sich beim Thema Gebären ein wenig wie mit der Natur im Ganzen: Je weniger sie uns begegnet, je weniger selbstverständlich sie mit unserem Leben verwoben ist, umso mehr Gedanken verwenden wir auf die kostbaren Momente, in denen wir ihr und damit uns selbst nahe sind. In einer Gesellschaftder Erst- und Einziggebärenden sind die Begleitumstände einer Geburt darum längst kein Zufallsprodukt mehr, sondern immer öfter eine bewusste Entscheidung, die nicht zuletzt Ausdruck des eigenen Lebensgefühls ist. Und das wird entsprechend kultiviert, sei es mit Hilfe der Technik in Gestalt von besonderer Musik und Videoaufnahmen, sei es durch das radikale Gegenteil, das Schaffen einer angeblich technikfreien Umgebung.
„Natürlich“ gebären
Wer Genaueres über den Wandel des Natürlichkeitsbilds anhand des oftmals rituellen Umgangs mit Geburten erfahren möchte, ist bei Karin Giersig gut aufgehoben. Sie arbeitet als niedergelassene Gynäkologin in Berlin-Weißensee, und doch ist sie alles andere als eine orthodoxe Schulmedizinerin: Bevor sie eine Praxis aufmachte, war sie als Ärztin in der anthroposophischen Klinik Havelhöhe beschäftigt, die als ein Geheimtipp zum Gebären für Paare gilt, die einer sterilen Krankenhausatmosphäre entfliehen wollen und auf die von Hebammen durchgeführte Geburt setzen.
1982 stieg Karin Giersig in die Geburtshilfe ein – in einer Zeit, in der Ärzte gut verdienten und das Eingehen auf die Patientinnen nicht in der Weise im Fokus stand wie heute. Geburten, erinnert sie sich, waren noch weitgehend automatisierte Vorgänge. So gut wie jede Entbindung wurde mit Hormonen eingeleitet. Bisweilen kam es vor, dass ein Schichtwechsel für diesen Schritt genügte oder ein bevorstehender Urlaub des leitenden Gynäkologen. Es war der historische Endpunkt einer Entwicklung, die in der Abgabe der eigenen Verantwortung und Mitbestimmung an den Arzt gipfelte, die jeder vom Hörensagen kennt.
Mein Vater, Jahrgang 1941, ist noch zu Hause zur Welt gekommen, weil es nicht genügend Platz im Krankenhaus gab. Als das Gebären in der Nachkriegszeit in Krankenhäusern zum Standard wurde, wuchs mit dem Komfort auch die Abhängigkeit vom System Klinik. Dass Mütter sich ausruhen mussten von der Geburt, wann sie sich auszuruhen hatten, dass sie in einem strengen Vier-Stunden-Rhythmus zu stillen hatten, wann sie ihr Kind sehen durften: All das war vorgeschrieben – bis in die achtziger Jahre.
Für meine Generation vollkommen unvorstellbar, war es einmal normal, dass die Säuglinge den Müttern nach der Geburt weggenommen wurden und dass die Schwestern sie nur zum Stillen brachten. Dann kam die Frauenbewegung, die sich aus der grün-feministischen Szene speiste – und mit ihr die Idee, sich nicht länger fremdbestimmen zu lassen. Natur und Technik, dies zeigt sich auch in der Frauen- und Kinderheilkunde, waren zu jeder Zeit eine Frage von Macht und Autonomie.
Wer in den siebziger Jahren groß wurde, konnte das Auseinanderfallen entsprechender Orientierungen gewissermaßen erstmals am eigenen Leibe erfahren. Dies gilt auch für die Unterschiede in den ehemaligen deutschen Teilstaaten. Stillen war im Westen nicht nur als Ausdruck der
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