Das gruene Gewissen
Sterbekomplexesgezeichnet. Benns Verse, etwa in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke , gehören bis heute zum Eindringlichsten wie Abstoßendsten, was die deutsche Literatur der Klassischen Moderne hervorgebracht hat. Entsprechend heftig fielen die Reaktionen der Zeitgenossen aus, die sich angewidert abwandten.
Dabei hatte Benn etwas Wesentliches beobachtet und zu Gedichten gemacht. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts veränderte sich das Gesicht und mit ihm die literarische Wahrnehmung moderner Großstädte in Deutschland wie im Ausland fundamental.
Das lange 19. Jahrhundert, das in seinen letzten Zügen nur noch als eine Epoche der Stagnation und des kulturellen Unbehagens wahrgenommen wurde, mündete in den Expressionismus und eine Dichtung der Sezession und des Verfalls. Städte wie Wien oder Paris galten in einer ähnlichen Weise als symptomatisch für dieses Zeitgefühl, wie Berlin zum Sinnbild der „Roaring Twenties“ wurde.
In seinem einzigen Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge lässt Rainer Maria Rilke seinen Protagonisten, einen jungen dänischen Adligen, durch das Paris der Jahrhundertwende laufen: Es ist voller Geräusche und Gerüche. Brigge denkt über die ersten Sterbehäuser und den anonymen Tod nach. Ihnen stellt er die Erinnerung an seinen Ahnherrn gegenüber, der daheim starb und dessen Ableben das Vieh zu lautem Brüllen im Stall bewegte. Eins zu sein mit seiner Umgebung, ins Leben zu kommen und aus ihm zu gehen an seinem Ort: Es ist ein altes Motiv.
Gottfried Benn hat in seinem Gedicht Saal der kreißenden Frauen der Industriemäßigkeit des Sterbens jene des Zurweltkommens hinzugefügt. Es ist ein Umfeld der Sterilität, der Aufgabe von Persönlichkeit und Intimsphäre. Schrecken und Faszination liegen beim heutigen Betrachten so dicht beieinander, weil eine vergleichbare Situation kaum vorstellbar erscheint. Dadurch wirkt das Gesagte fast kunstvoll überhöht – als bilde es nicht eine Wirklichkeit ab, wie es sie einmal gab.
Genau in dieser Zeit wurden in Deutschland tatsächlich die ersten Entbindungsstationen und Säuglingsheime errichtet, die zur Abnahme der Säuglings- und auch Müttersterblichkeit führten. Diese lag in Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht anders als bei Naturvölkern bei über zehn Prozent. Jede sechste bis achte Mutter starb unter der Geburt oder im Wochenbett. 1950 waren es in Deutschland noch 200 Mütter bei 100000 Entbindungen. Heute sind es nur noch sieben. 84
Gerade durch das Entbinden in Kliniken, so lässt sich statistisch zeigen, und die entsprechende Überwachung der Kinder in den ersten Lebenstagen wurde die Frühsterblichkeit deutlich gesenkt. Hinzu kam, dass die Behandlung mit Antibiotika die Auswirkungen von Infektionskrankheiten reduzierte. Erst der Aufbau der Neonatologie führte zum heutigen Niveau eines radikalen Rückgangs der Frühgeborenensterblichkeit – doch er schuf auch das Gefühl einer automatisierten Geburt.
Mit der Atmosphäre heutiger Krankenhäuser hat das Benn’sche Szenario nichts mehr zu tun. Der Raum, in dem mein Sohn zur Welt kommen sollte, war nicht weiß gestrichen oder gekachelt, sondern mit furnierten Schränken samt Stereoanlage eingerichtet. Die Musik konnte die Geräusche aus dem Zimmer nebenan nicht verdecken. Ansonsten hatten wir das Gefühl, in Deutschlands größter Geburtsklinik, der Charité, eine private Atmosphäre zu erleben. Der Wehenschreiber lieferte beständig Informationen. Als der Geburtsvorgang zu stocken begann, betrat unsere Hebamme häufiger den Raum. Am Ende, nach mehreren Stunden des Wartens, wurde es ein Kaiserschnitt. Bei meiner Tochter schafften wir es kaum in den Kreißsaal.
Mehr als 30000 Kinder kommen in Berlin jährlich zur Welt, 3000 davon in der Charité, deren Hauptgebäude nicht weit entfernt sind von der alten Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, an der Gottfried Benn sein Medizin-Studium absolvierte – das ehemalige Regierungs- und Diplomatenkrankenhaus der DDR und heutige Bundeswirtschaftsministerium in der Scharnhorststraße. Unter Friedrich dem Großen in der Mitte des 18. Jahrhunderts war es ein Invalidenhaus gewesen.
In Berlin, so schätzt man, werden vier Prozent der Kinder außerhalb von Kliniken auf die Welt gebracht. Berlin liegt damit wie andere deutsche Großstädte oder Lebensorte einer aufgeklärten akademischen Schicht an der Spitze der Statistik mit einem doppelt so hohen Wert wie in den ländlichen
Weitere Kostenlose Bücher