Das gruene Gewissen
Emanzipationsbewegung der Frauen weitgehend verpönt. Wesentliche Gedanken empfing man dabei aus den libertären Strömungen in den USA oder Frankreichs, das als fortschrittlich galt und wo die Selbstverwirklichung der Frau im Vergleich zur alten Bundesrepublik scheinbar höher war. Was als gesellschaftlich normiert galt, fand seinen Niederschlag folgerichtig in wissenschaftlichen Studien, die von der Schädlichkeit des Stillens etwa durch die Übertragung von Keimen über die Muttermilch berichteten. In meiner Wiegekarte, die den Beginn eines Fotoalbums bildet, ist auf dem Umschlag hingegen eine stillende Mutter zu sehen. Darunter prangt in großen Buchstaben die Aufforderung, zum Stillen zu gehen, für das man mit 10 DDR-Mark lockt. Es gab damals Milch-Küchen, in denen Frauen ihre überschüssige Milch abpumpten, um sie anderen Kindern zu geben. Heute ist dieses Privileg vor allem Frühchen vorbehalten.
Karin Giersig wuchs in der Nähe von Karlsruhe auf. Seit langem arbeitet sie mit Kathleen Günther zusammen, eine Ostberliner Hebamme, die 1992 mit zwei anderen Hebammen das zweiteGeburtshaus Berlins gründete. „Das erste in der ehemaligen DDR“, wie sie nicht ohne Stolz sagt. Es heißt Maja und liegt am Arnimplatz im Stadtteil Prenzlauer Berg.
Kathleen Günther erinnert sich, dass sie zu Beginn der achtziger Jahre noch mit dem Hörrohr neben den Frauen saß. Zunehmend stieß aber die Medizin in den Kreißsaal vor. Die Ärzte nahmen den Hebammen etwas weg, drängten sie in ihrem Tun zurück, zumindest empfanden es manche so, auch Kathleen Günther. Auch deshalb gründeten sie die ersten Geburtshäuser und Hebammen-Verbände.
Der Wunsch der Hebammen nach mehr Selbstbestimmtheit wuchs parallel zum Wunsch der Frauen nach der Entbindung in einem Umfeld, das ihnen nicht das Gefühl gab, krank zu sein, sondern ein Kind zu bekommen. Und der Zuspruch gab Kathleen Günther recht: In manchen Jahren seit der Gründung gab es bis zu 260 Geburten. Das ist ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass dieses Geburtshaus streng genommen eine Geburtswohnung ist.
Seitdem es in den Krankenhäusern weniger nach Krankenhaus riecht und man besser auf die Frauen eingeht, ist auch die Bereitschaft zurückgekehrt, wieder dort sein Kind zu gebären. „Die Dinge haben sich umgedreht“, sagt Karin Giersig und gibt zu verstehen, dass sie dies mit gemischten Gefühlen sieht. „Heute sind wir beim anderen Extrem angelangt.“
Was sie damit meint, wird schnell klar, wenn man den beiden Frauen zuhört, die ganz unterschiedlich aufgewachsen sind. Es sei nicht nur die mangelnde Empathie der Medizin früher, die den Wunsch nach möglichst „natürlicher“ und „ganzheitlicher“ Versorgung der Patientinnen befördert hätte, sondern ein allgemeines Klima der Risikovermeidung durch das Zauberwort Natur. Die Mündigkeit der Patientinnen habe wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ein Maß erreicht, bei dem die Grenze zwischen Fragen und Fordern verschwimme. So sei es heute in erster Linie ein Statement und durchaus kleidsam, eine außerklinische Geburt zu haben, gerade in Prenzlauer Berg. Die Frauen seien sichin diesem einen Punkt sehr sicher, wüssten aber zunehmend weniger, was auf sie zukommt – dass Gebären harte Arbeit ist –, und wachten dann auf wie aus einem Traum. Die Anstrengungen der Geburt ohne PDA wie im Krankenhaus würden immer öfter unterschätzt, die Schmerzgrenze liege definitiv niedriger als früher.
„Immer mehr außerklinische Geburten werden vorzeitig abgebrochen“, sagt die erfahrene Hebamme und nennt die Zahl von 18 Prozent, während es früher nur jede zehnte Geburt gewesen sei. Jede fünfte außerklinische Geburt findet aus medizinischen oder persönlichen Gründen somit vorzeitig ein Ende. Vielleicht auch, weil die Kinder bei der Geburt größer und schwerer sind als früher, eine Folge der Genussgesellschaft. In jedem Fall seien die Frauen bei der Erstgeburt älter und damit anders konditioniert.
„Im Vordergrund steht immer der undefinierte Wunsch nach Natürlichkeit“, ergänzt die Gynäkologin, „der illusionär ist“. Und dann erzählt sie von einer Patientin, die sich vor einer Hausgeburt weigern wollte, einen Ultraschall zu machen. Sie hatte gehört, dass das Schallen schädlich sein könne für das Ungeborene. Und dass es eine Berliner Hebamme gebe, die sie auch so zur Geburt genommen habe.
Dass dem nicht so ist, bedarf keiner Hinweise auf die Versicherungsbedingungen der Hebammen.
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