Das gruene Gewissen
Karin Giersig sieht auf einen alten Apothekerschrank, der ein Blickfang ihrer Praxis ist und auf dem Emailleschilder mit Kräuternamen wie „Walnussblätter“, „Tausendgüldenkraut“, „Vogelknöterich“, „Augentrost“ und „Seifenrinde“ prangen: Über die Konsequenzen – eine Steißlage des Kindes oder eine vor den Muttermund verschobene Plazenta – hätte die junge Frau, die einen aufgeklärten Eindruck machte, nichts gewusst. Am Ende hätte es Tränen gegeben über die Enttäuschung, dass dieser Weg vielleicht doch nicht der richtige sei. Warum, denkt man unweigerlich, möchte eine Frau, der es um die Reduzierung jeglicher potenziell schädlicher Einflüsse geht, ihr Neugeborenes dann überhaupt im Zentrum einer Großstadt wie Berlin aufwachsen sehen?
Unter umgekehrten Vorzeichen würden sich die Fehler der Schulmedizin früherer Jahre heute wiederholen, sagt Karin Giersig dann. „Alles muss natürlich sein, ohne Chemie, auch ohne Operation – das ist der Anspruch, der immer konfrontativer artikuliert wird.“ So gut wie immer gehe es in Wahrheit um Ängste und Misstrauen. Sie als Ärztin sei dabei zunehmend in der Rolle der Dienstleisterin, die diese Ängste auffangen solle. Als fachliche Autorität, die einen begründeten Rat gegen die selbstgesteckten Ziele einzubringen hat, werde sie von manchen Patientinnen leider zunehmend weniger akzeptiert. Das zeigten auch die Internetforen, in denen sie und andere Kolleginnen bewertet würden.
Karin Giersig sagt, dass manche ihrer heutigen Patienten im Gegensatz zu früher nicht in derselben Weise bereit wären, Konsequenzen zu tragen. Gerade solche Frauen, die auf „Natürlichkeit“ Wert legten, übertrügen ihr die Kontrolle, wollten mittels der Pränataldiagnostik jede nur denkbare Komplikation und Schicksalhaftigkeit der Natur ausschließen, akzeptierten ihr Urteil als Ärztin dann aber nicht, wenn sie von einer außerklinischen Geburt abrate.
Die hohe Konsequenzbereitschaft, die sie bei den Aktivistinnen der achtziger Jahre bewunderte, fehle heute oft, sagt sie. Statt der Pillengläubigkeit früherer Jahre gebe es den Glauben an Globuli-Effekte, und das im übertragenen wie im eigentlichen Sinne. In Prenzlauer Berg, erfahre ich, gibt es eine Apotheke, wo Frauen Teile der eigenen Plazenta abgeben können, um daraus Creme oder Kügelchen zu machen. Manche Frau sei völlig in ihrem Wunsch gefangen, den Schalter in Richtung Natur umzulegen – alle Risiken auf Knopfdruck zu beseitigen. „Es ist oft keine gelebte Haltung“, sagt Giersig, „keine gewachsene Überzeugung, sondern eine aus Lifestyle-Gründen.“
Ich habe ein Bild vor mir, es war noch nicht lange her: zwei Mütter auf dem Spielplatz, die ihren gestürzten Kindern nicht über den Kopf strichen und sie trösteten, sondern ihnen eilig Arnika-Globuli in den Mund steckten.
Vertrauen und Misstrauen in Medizin
In den dreißig Berufsjahren hat Kathleen Günther auch mehrere Jahre in Afrika als Hebamme gearbeitet. Sie sagt, es sei eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen, nach Ghana zu gehen, dorthin, wo auch Jacob Cramer immer wieder für Studienzwecke ist, dorthin, wo Kayayoo-Frauen große Lasten auf dem Kopf über die Märkte tragen und die Slums inmitten der Stadt liegen.
In Accra habe es nur unzureichend Wasser und Strom gegeben. Die meisten Frauen bekämen aber mittlerweile einen Wehentropf. „Es geht dort ums nackte Überleben, fast jede Frau hat ein totes Kind in der Anamnese“, wobei viele Kinder vor der Geburt, aber auch in den ersten fünf Lebensjahren sterben. Ganz so wie in Deutschland vor vielen Jahrzehnten. Anders als in Europa seien die Frauen darum stolz darauf, in ein Krankenhaus zu gehen, und hätten kein Problem damit, dass die Geburten wie bei uns vor dreißig Jahren planmäßig eingeleitet würden. Ein Kaiserschnitt sei sogar so etwas wie ein Ausdruck der Anerkennung für das, was sie durchmachten. Und er gebe Sicherheit. Denn es stürben weniger Kinder infolge der besseren vorgeburtlichen Untersuchungen, die eine geplante Sectio erfordere. Es liege also nicht allein am Krankenhaus.
Dafür gibt es in Afrika zu wenige Hebammen, Frauen wie Kathleen Günther. Die Bezahlung ist zu schlecht, gerade auf dem Land braucht man ein Fahrzeug, um die riesigen Distanzen der „dezentralen“ Gebiete zurückzulegen. Manchen deutschen Passanten bekannt geworden ist eine Kampagne der African Medical and Research Foundation (AMREF), einer Organisation, die
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