Das gruene Gewissen
Frau Riebe hieß, die Pappschachtel gab. Das war Mitte der achtziger Jahre, weit vor den Dioxin-Skandalen. Es ging meinem Vater damals tatsächlich um Geschmack und Frische, die man in den Läden oft nicht in dieser Güte vorfand. Von Frau Riebe kaufte er auch Blumenkohl, Gurken und anderes Gemüse. Denn der Blumenkohl, den man in den Auslagen sah, war nicht selten kleinwüchsig, trocken, grau. So wie die Häuserwände.
Die DDR war ein Land von Hobbygärtnern, in dem es zur besten Abendzeit eine Sendung namens Du und Dein Garten im Fernsehen gab. Deren Moderatorin Erika Krause besaß Kultstatus. Es hat hierzu vielfältige Überlegungen gegeben nach der Wende: zur Soziologie der Vereinskultur, der Sport- und Angelclubs, des Zeltens am Strand, auch der Gartenanlagen, die so sauber und adrett waren. Der Blick war stark nach innen gerichtet, weil er nach außen nur begrenzt schweifen konnte . Ein Garten konnte darum sehr viel sein: Gemeinschaft, aber auch Privatsphäre unter Kirschbäumen, Nische, Rückzugsort, Hollywoodschaukel, Sommerfrische, ein Hauch von Autarkie. So gut wie jeder, den ich kannte, hatte einen Garten.
Das Gärtnern war im Osten aber auch deshalb so verbreitet, weil es auch bei Lebensmitteln eine Mängelwirtschaft gab, deren Auswirkungen sich durch eigenes Engagement spürbar abmildern ließen. Wie bei KFZ-Werkstätten, Handwerksbetrieben und in vielen anderen Bereichen war man beim Obst und Gemüse tatsächlich auf „Selbstversorgung“ aus, aber eben nicht aus romantischen Gründen wie heute. Mein Großvater baute aus den Margarinebechern nicht nur Futterhäuser für die Meisen, wobei er die Sonnenblumenkerne dafür aus seinem Garten holte. Dort wuchsen auch die Birnen und Stachelbeeren, die meine Großmutter zu Konfitüre und Gelee einkochte, das an die gesamte Nachbarschaft weiterverschenkt wurde.
Dieser Zustand wurde verstärkt durch die Tendenz des Staates, besonders beliebte Lebensmittel in den Westen zu verkaufen. Räucheraal zum Beispiel, der aus dem Haff bei Rerik kam, den es aber nur unter der Hand gab, wenn man Verbindungen hatte. Aal war eine harte Währung, für die man auch Steine oder Zement kaufen konnte. „Räucheraal ist wie Westgeld“, sagte mein Vater. Wenn er welchen bei den Fischern kaufte, aßen wir den ersten immer gleich an Ort und Stelle, ohne Brot und Besteck. Er war so saftig, dass uns das warme Fett aus den Mundwinkeln lief.
Vor allem aber denke ich heute, dass mein Vater gern mit mir über Land fuhr und das Nützliche mit dem Schönen verband. Auch deshalb gab es frisches Gemüse. Mit Kleingartenanlagen, die im Norden plattdeutsche Namen wie „Uns Hüsung“ oder „Fritz Reuter“ trugen, hatte er nichts am Hut. Noch heute verbinde ich mit ihnen Frauen mittleren Alters in Dederonschürzen, die sich der Mühsal der Gartenarbeit aussetzten und sich für einen Kohlrabi oder ein paar Zuckerschoten abwechselnd die Schweißperlen von der Stirn wischten und ins Kreuz fassten. Wer jung war, vermied Gartenarbeit, fuhr am Wochenende Auto oder Moped, lag am Strand herum (Angeln war zugegebenermaßen auch nicht gerade der Inbegriff der Coolness). Unkraut zu zupfen und Beete zu gießen: Das war für Heranwachsende, aber auch ihre älteren Geschwister Strafarbeit und so spaßbefreit wie das Sammeln von Sekundärrohstoffen, das heute in Zeiten des Urban Minings ein Megathema ist. Denn es erfolgte aus einer Logik der staatlich verordneten Vernunft.
Beim Schlachtfest bekam ich zudem jedes Jahr vor Augen geführt, was Landarbeit sein konnte, wenn sie aus harten wirtschaftlichen Gründen geschah. Die beiden Söhne unserer Gastfamilie hatten Schwielen an den Händen von der Arbeit auf dem Feld, die sie stillschweigend erledigten, morgens vor der Lehre, abends nach der Lehre. Ein Hektar Land, Kartoffeln und Runkelrüben, die zwischen den Kiefern der Schweine und Pferde ein saftiges Schmatzen erzeugten, und ein Dutzend Kaninchen in engen Drahtverschlägen, bei denen das Heu gewechselt werden musste, manche mit entzündeten Augen. Im Sommer kamen zur Verstärkung noch ein paar Halbstarke herüber, um auf den Feldern zu arbeiten. Sie beachteten mich kaum, und wenn, dann mit jener Härte und Unsentimentalität gegenüber dem nach Anschluss suchenden Stadtkind, wie sie der junge Schriftsteller Daniel Mezger in seinem Roman Land spielen beschreibt. Heute fahren Bekannte von mir am Wochenende mit ihren Kindern auf Erdbeerfelder, um sich die Früchte selbst zu pflücken, etwas wie
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