Das gruene Gewissen
1945 an einen Privatmythos. In seinem Nachkriegsgedicht Heimkehr (1948) wird eine Stimme vernehmbar:
„Soll ich wie Schatten zerrissener Mauern
Hausen im Schutt, das Tote betrauern?
Soll ich die schwarze Schote enthülsen,
die am Zaun der Sommer vergaß,
mähen den Hafer rissig und falb,
den ein eisiger Regen zerfraß?“
Die Antwort gibt das Gedicht selbst:
„Aber am Morgen,
es dämmerte kalt [...]
kam eine Frau aus dem wendischen Wald.
Suchend das Vieh, das dürre,
das sich im Dickicht verlor,
ging sie den rissigen Pfad.
Sah sie schon Schwalbe und Saat?
Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug.“ 113
Das Bild der wendischen Alten, das lange Zeit völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden war, wird in einem Text aus demJahr 1971 übrigens noch einmal aufgegriffen. Die „Mutter der Frühe“, die von Huchel als Personifikation von Natur-Schöpfung und ewiger Wiedergeburt gerühmt wurde, tritt nun als Todesengel auf, der mahnend in das Bewusstsein des Dichters zurückkehrt. Anders als in Heimkehr ist sie kein Symbol der Zuflucht und des Neubeginns mehr, sondern erscheint dem Ich als schmerzliches Gedächtnis seiner selbst. Die „Große Mutter“, nun in Gestalt der „wendischen Weidenmütter“, wird damit zur Verkünderin des Untergangs. Man kann auch sagen: Die Natur hat als Hoffnungssymbol ausgedient. 114
Eine Renaissance erlebte im Rahmen der deutschen Naturdichtung des 20. Jahrhunderts zuvor auch die Idee einer Natursprache, die sich über die Romantik bis zur Mystik Böhmes zurückverfolgen lässt. Ihr liegt die Vorstellung einer tieferen Bestimmung der Namen der natürlichen Dinge zugrunde – und sie ist durchaus produktiv für den gegenwärtigen Glauben an Heilsbotschaften des Natürlichen. Denn in der Zeit der großen Moderne-Kritik vollzog sich über die Auseinandersetzung mit dem romantischen Konzept einer Natursprache auch eine Abrechnung mit der Zivilisation. 115
Eine Gruppe junger Dichter sammelte sich um 1930 um eine Zeitschrift, die in Dresden erschien und Die Kolonne hieß. Deren Herausgeber Martin Raschke umriss das sprachliche Programm seiner Autoren sehr genau, indem er sagte: „Was sind das für elende Wörter, die wir für das Grammophon, das Auto und die vielen Apparate gefunden haben, hört man dagegen Egge und Rad.“ 116 Und an anderer Stelle heißt es, dass es zum Wesenszug „aufklärerischer Zeiten“ gehöre, dass man in Worthülsen spreche. Als Überfrachtung des Menschen mit entfremdenden Einflüssen stand Raschke der Technik auch in Bezug auf ihren sprachlichen Einfluss feindlich gegenüber. Denn er fürchtete, dass das Schöpfen neuer, auf die Technik ausgerichteter Worte zum Verlust einer unmittelbaren Bezeichnung der Dinge führe. Dieser Gedanke einer Entfremdung der Sprache als Synonym für eine Selbstentfremdung des Menschen von der Natur zieht sich wie ein roter Faden durch die Dichtung neoromantischer Autoren, beispielhaft in einem Text des Dichters Horst Lange. Dieser negiert das Wesen der Technik, indem er sie den Zyklen der Natur – Geburt, Wachstum, Vergänglichkeit – unterstellt:
„Wo befindet sich auf der ganzen Erde eine Maschine, die neben dem geheimnisvollen Mechanismus eines geringen Saatkorns bestehen könnte, in dem die Ernten vieler künftiger Jahrhunderte verborgen sind? Eine solche Maschine wird nie gebaut werden.“ 117
Die Konkurrenzsituation, die Lange durch die Gegenüberstellung von „Maschine“ und „Saatkorn“ herbeiführt, korrespondiert mit einem früheren Bild Martin Raschkes. In einem Beitrag für die Literarische Welt sprach er davon, dass „ein großer Teil der Deutschen in ländlichen Verhältnissen“ lebe und ihm „Regen und Kälte wichtiger“ seien als „ein Dynamo, der noch nie das Korn reifte“. 118 In diesem Zusammenhang taucht bei beiden Autoren auch der Begriff des „Bauern“ auf.
Lange bezeichnete den Bauern nicht nur als Vorbild für eine ganze Generation werdender deutscher Dichter am Vorabend des „Dritten Reichs“, sondern thematisierte die Komplexität der urbanen Lebenswelt. Gegenüber dieser Welt erschien die naturnahe Existenz des Bauern für ihn in einem „festen Kreis von einfachen, unkomplizierten Vorgängen eingeordnet“. Denn der Bauer könne sich als Sachwalter von Saat und Ernte, Wachstum und ruhiger, nach festen Gesetzen geregelter Unterordnungen unter Größeres begreifen.
Die versteckte Botschaft dahinter ist, dass Bauern nicht anders als – zumindest in dieser Zeit –
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