Das gruene Gewissen
in dieser Umwelt sein Buch Vom Aufenthalt schreiben konnte, das ein Dokument des Innehaltens als Prinzip und der Verweigerung gegenüber jeder Form von Zeitgeist ist, werden zu viel Ruhe, zu viel Weite und zu viel Wald für andere zum Problem. Das Deutsche Ärzteblatt veröffentlichte im Frühjahr 2012 die Ergebnisse eine Langzeitstudie zur Gesundheit in Nordostdeutschland. Ein Großteil der Befragten war in der Landwirtschaft beschäftigt. Im Ergebnis gaben insbesondere Männer eine Verschlechterung des Gesundheitszustands an. Die Lebenszufriedenheit war entgegen dem Trend der allgemeinen Alterserwartung gesunken, wobei der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten ebenso wie der Rückgang der öffentlichen Infrastruktur in einem Atemzug mit dem Gesundheitsempfinden genannt wurden. 121 Die Lebensqualität hing demnach primär von der sozialen und wirtschaftlichen Lage ab, inmitten der schönsten Natur.
Als ich durch eines der Dörfer fuhr, sah ich ein Gutshaus an einem Weiher, der durch den Platzregen voller Blätter war. Solch einen Ort meinte der Volksmund, wenn er von einem schönen Flecken Erde sprach. Es war ein Anblick wie zu Fontanes Zeiten: ein vom Regen niedergedrücktes Feld, das bis an den Horizont reichte, die Züge einer Endmoränenlandschaft, in denen Hügel und Täler wie auf einem Gemälde verschmolzen. Sie wurde in der Stein- und Bronzezeit zum ersten Mal von Menschen besiedelt. In zwanzig Jahren wird sie aufgrund der Landflucht vielleicht wieder menschenleer sein und ist doch oder gerade deshalb so reizvoll. Unser Blick auf die Natur ist eben ambivalent: Einerseits suchen wir den entvölkerten Raum, andererseits scheuen wir die gänzlich ursprüngliche Natur.
Und ewig rauschen die Wälder: Die Erfindung von „Natur“
Welche Natur meinen wir, wenn wir von ihrem Schutz sprechen? Eine Natur, die schön ist, Kontemplation verspricht und schützenswert erscheint: Sie ist eine Erfindung der Neuzeit. Das Verhältnis des Menschen zur Natur war zuvor immer an das Maß geknüpft, in dem er sich seiner Umwelt bemächtigte und den Elementen Siege abtrotzen konnte. Kein Maler oder Dichter des Frühmittelalters hätte eine Landschaft als Zentrum und alleinigen Zweck im Sinne gehabt. Die Natur war vor allem Beiwerk, Hintergrund, Rahmen für höfische Kultur, Ritterspiele, Turniere, Zeremonielle. Es wäre in dieser Epoche noch einem Frevel gleichgekommen, nicht Gott oder den Menschen zu huldigen, sondern einsamen Bergseen oder Mooren. Wälder waren finstre Orte, in die man aus der Gemeinschaft Ausgestoßene verbannte. Das Bild Gottes war entscheidender als das Bild seiner Schöpfung.
Erst das ausgehende 18. Jahrhundert brachte jene Mythisierung, die uns noch heute vertraut ist: Mensch und Natur verschmolzen zu einer Einheit, die natürliche Welt wurde zum Spiegel der menschlichen Seele. Die Romantik, die zumindest in Deutschland eine Antwort auf die Nüchternheit der Aufklärung war, vor allem aber das bürgerliche Zeitalter des 19. Jahrhunderts entdeckten die Natur als das Gegenstück zur puren Vernunft. Die Romantiker setzten auf die Einheit der Dinge. Sie wollten zeigen, dass der Mensch und seine Artefakte wie Ruinen oder mittelalterliche Burgen an Flussläufen nicht zufällig inmitten der natürlichen Welt standen. Damit bewiesen sie zugleich, dass der Mensch der Natur längst gegenüber stand, indem er über sie reflektierte, und nicht mehr in einer Einheit mit ihr existierte.
Es braucht wenig Schwärmerei, um sich einen Wald vorzustellen, wie er überall in Deutschland das Landschaftsbild prägt. Laubbäume wie Eichen und Buchen in loser Zahl, gelegentlich auch „Forstäcker“ mit Kiefern, seltener mit Fichten, die so dicht stehen, dass sie kein Sonnenlicht auf den Boden lassen. Kaum jemand wird beim Stichwort „Natur“ an einen weißen Ostseestrand denken oder den Salar de Uyuni. Natur meint Wachstum, Bewegung, Tiere und Pflanzen, die sich auf engstem Raum begegnen, weshalb sich bei den meisten Menschen eher der Gedanke an einen Laubwald oder eine Schilflandschaft einstellen dürfte. Überließe man die Natur sich selbst, so zeigt ein mittlerweile seit 170 Jahren durchgeführtes Dauerbeforstungsexperiment im englischen Rothamsted, würde in vielen Regionen Europas Buchenwald vorherrschen. So wie vor eintausend Jahren.
Der Wald: Er ist ein perfektes Gegenstück zur Zivilisation, da er Grenzen schafft, den Raum des Menschen von jenem der Natur zu separieren scheint und doch selbst Natur ist.
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