Das gruene Zelt
die allgemeine Ablehnung, Olga gegenüber aber empfand sie eine besondere, enthusiastische Dankbarkeit: Im Winter 1953, als das schreckliche Wort Shidowka ständig hinter Tamaras Rücken ertönte, verteidigte Olga als Einzige in der Klasse die Ideale des Internationalismus, und damit konkret ihre Freundin Tamara. Wenn sie hörte, wie jemand Tamara » Shidowka « nachrief, schrie sie unter Tränen:
»Ihr seid Faschisten! Ihr seid gemein! Sowjetische Menschen tun so etwas nicht! Dass ihr euch nicht schämt! In unserem Land sind alle gleich!«
Nie vergaß Tamara Olgas edle Empörung, und nur dank dieser Haltung des besten Mädchens der Klasse konnte sie sich mit der schrecklichen Schule und der Welt voller Feindseligkeit und Demütigung aussöhnen.
Mit den Jahren lernte Tamara Olgas Unabhängigkeit und ihren Mut immer mehr schätzen. Außerdem log Olga nie, sie sagte stets, was sie dachte. Allerdings dachte sie meistens das Richtige, das, was sie zu Hause hörte. Tamara ihrerseits konnte aufgrund ihrer Herkunft, der Geschichte ihrer Familie und ihrer nicht ganz sowjetischen Erziehung Olgas Wahrheit nicht teilen, auch nicht ihren Enthusiasmus und ihr Pathos. Doch sie hätte nie gewagt, Olga auch nur mit einem Wort zu widersprechen – aus Angst, die Freundin zu verlieren, und weil sie nicht wollte, dass jemand ihre tragische Fremdartigkeit erkannte, schon gar nicht Olga.
So war ihre Dreierfreundschaft, die die ganze Schulzeit hielt, einerseits sehr eng, aber zugleich auch recht schieflastig: Olga redete, die Freundinnen hörten zu und schwiegen, die eine begeistert, aber ohne etwas zu begreifen, die andere kritisch und zurückhaltend.
Tamara äußerte sich nur, wenn es um Theater und Literatur ging – da vertrat sie ganz eigenständige, interessante Ansichten – oder um nichtige, aber aufregende schulische Ereignisse: die neuen Schuhe der Geschichtslehrerin oder das heimtückische Verhalten von Sinka Stschipachina, einer Betrügerin und Verräterin. Sie und Poluschka tolerierten einander nur um Olgas willen.
Ab der fünften Klasse ging Galja in einen Sportverein, wo sich ihr eigenes Talent entfaltete. Sie betrieb Gymnastik, nach der sechsten Klasse fuhr sie in ein Trainingslager und stieg in die zweite und bald in die erste Leistungsklasse auf. In der achten Klasse trainierte sie bereits nach dem Meisterprogramm und absolvierte es mit fünfzehn Jahren, musste aber noch ein halbes Jahr auf den Meistertitel warten, denn den bekam man erst mit sechzehn. So wurde sie zu einer schulischen Berühmtheit, zu echtem Ruhm fehlten ihr die sonstigen guten Leistungen. Sie war nach wie vor eine schwache Schülerin, trotz Olgas Hilfestellung.
Nach dem Schulabschuss geschah etwas Überraschendes – alle drei Freundinnen nahmen ein Studium auf. Olga an der Universität, was allerdings keine Überraschung war, Tamara mit ihrer Silbermedaille ein Medizinstudium, was angesichts der Umstände jener Jahre außerordentlich war, und Galja am Institut für Körperkultur und Sport. Sie war inzwischen Mitglied der Gymnastik-Jugendmannschaft von Moskau, mit Orthographie und Grammatik stand sie allerdings noch immer auf Kriegsfuß.
Aus Anlass dieses dreifachen Triumphs wurde bei Olga zu Hause ein großes Fest für die ganze Klasse veranstaltet. Olgas Mutter bestellte höchstpersönlich in der Kantine des Literaturhauses diverse Kleinigkeiten wie Piroggen, Torteletts, Kanapees – wobei niemand wusste, was das eigentlich war –, und zog sich großmütig auf die Datscha zurück. Olgas treuer Ritter Rifat, der die Schule zwei Jahre zuvor absolviert hatte, bot an, echten Plow beizusteuern, und lieferte ihn pünktlich um acht Uhr abends frei Haus – in einem riesigen Kessel aus einem Restaurant auf der Allunionsausstellung. Sein Vater war aus Aserbaidshan nach Moskau in den Regierungsapparat geholt worden, er hatte vielfältige Beziehungen, von ganz oben bis ganz unten.
Die Party war ein voller Erfolg – zwei Jungen und ein Mädchen betranken sich bis zur Bewusstlosigkeit, Vika Trawina und Borja Iwanow schmusten bis zum glücklichen Finale, was sie in anderthalb Jahren eifriger Übung nicht geschafft hatten, ein anderes Paar der Klasse zerstritt sich tödlich, was beide den Rest ihres Lebens bitter bereuten, und Rajetschka Kosina erlitt ihren ersten Anfall von Nesselfieber, mit dem sie fortan bis zu ihrem Tod leben musste.
Viele, viele wichtige Dinge ereigneten sich in dieser Nacht, doch die Gastgeberin Olga bemerkte von all dem nichts,
Weitere Kostenlose Bücher