Das gruene Zelt
Kultur und der Freiheit, der Religion und des Talents unterdrückte er alle, die er mit dem kurzsichtigen Blick des Kretins ausmachen konnte. Die eigentlichen Hauptfeinde übersah er dabei – die große Literatur, die große Philosophie, die große Malerei. Und erst recht Beethoven und Bach, auch Mozart ließ er in seiner geistigen Einfalt ungeschoren. Dabei hätte man sie alle verbieten müssen!
1964 kam Breshnew an die Macht. In der Partei gab es Umbesetzungen, die einen Blutsauger wurden von anderen abgelöst. Ihr armseliges kulturelles Niveau bestimmte den Lebensstil des Landes und wurde zu einer Messlatte, die zu überschreiten gefährlich war. Das literarische und künstlerische Massenfutter war öde. Nur einige kluge Köpfe, die sich in die Mathematik oder die Biologie zurückgezogen hatten, darunter ein paar Akademiemitglieder, meist aber Außenseiter, die auf nichtigen Arbeitsstellen dahinvegetierten, sich in drittklassigen Forschungsinstituten versteckten, einzelne geniale Studenten der chemischen und der physikalisch-technischen Fakultät oder des Konservatoriums – diese Unsichtbaren lebten ihre geistigen Bedürfnisse illegal.
Aber wie viele waren sie schon, diese Menschen, die einander nicht kannten und in den Garderoben von Bibliotheken, Philharmonien und in der Stille der Museen aufeinandertrafen? Sie waren keine Partei, kein Kreis, kein Geheimbund, nicht einmal eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. Ihr einziger gemeinsamer Nenner war vermutlich ihr Abscheu gegen den Stalinismus. Und natürlich das Lesen. Gieriges, besessenes Lesen – Hobby, Neurose und Droge. Für viele wurde aus dem Buch als einem Lehrer des Lebens ein Ersatz für das Leben.
In diesen Jahren erfasste die Lese-Epidemie auch Sanja – allerdings eine ganz besondere: Er entdeckte für sich die Lektüre von Klavierauszügen. Er ging ständig in die Musikalienbibliothek, und weil er längst nicht alles Interessante mit nach Hause nehmen konnte, verbrachte er fast seine gesamte Freizeit dort. Seine geschädigte Hand erlegte ihm große Beschränkungen auf, doch hin und wieder tröstete er sich mit einem Traum, der ihn mindestens fünfmal in den vergangenen zehn Jahren heimgesucht hatte: Er spielt, und das Spiel an sich bereitet ihm einen großen physischen Genuss. Sein Körper wird zum Musikinstrument. Zu einer einzigartigen mehrhalsigen Flöte – seine Fingerspitzen strömen Musik aus, sie fließt durch die Knochenröhren und sammelt sich in seinem Schädel, dem Resonanzkörper. Seine Möglichkeiten wachsen ins Grenzenlose. Das Instrument, das er dabei spielt, erinnert an ein Klavier, aber es ist ein ganz besonderes, kompliziertes, mit einem überirdischen Klang. Dabei ist ihm bewusst, dass er die Musik, die er hört, zwar sehr gut kennt, aber noch nie zuvor gehört hat. Sie ist ursprünglich, eben erst geschaffen, und zugleich seine, Sanjas eigene …
Die freie Lektüre »vom Blatt« erlaubte ihm, den musikalischen Text sofort zu erfassen, und hatte sogar einige Vorzüge: Die Lektüre mit den Augen war ideal, es existierten keinerlei technische Schwierigkeiten – die Musik floss vom Blatt direkt ins Bewusstsein.
Sanja analysierte gern Partituren. Er genoss die eigene Kunst der Instrumentierung, die großen Interpretationsmöglichkeiten. Die visuelle – und gedankliche – Rezeption der Musik schenkte ihm einen zusätzlichen Genuss: Ton und Zeichen verschmolzen miteinander, und es entstand ein aufregendes Bild mit einem womöglich eigenen, unlesbaren Inhalt. Noch vor dem eigentlichen Notenstudium registrierte er vage eine strukturell-inhaltliche Formel, ein Geflecht struktureller Schichten, und ihm schien, dass hier irgendwo die Lösung für das Geheimnis der Musik lag. Die Musik, so glaubte er damals, gehorchte dem Gesetz der Evolution, dem nämlich, nach dem die Welt sich selbst organisierte, indem sie sich von einfachen Formen zu komplizierteren entwickelte. Diese Evolution ließ sich nicht nur im Klang verfolgen, sondern selbst in der Notenschrift, in der Zeichensprache des musikalischen Denkens einer Epoche. Er stellte fest – keine große Entdeckung, denn sie war lange vor ihm gemacht worden –, dass die Notenschrift, die Notation, wenn auch mit großer Verspätung, die Veränderungen spiegelte, die sich im musikalischen Denken im Laufe der Jahrhunderte vollzogen hatten. Von da aus war es nicht weit bis zur Idee, die Gesetze dieses Denkens finden zu wollen – anders gesagt, das Gesetz der Evolution von Tonsystemen. Als
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