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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Sanja sehr vorsichtig ansetzte, Kolossow seine Gedanken zur Evolution der Musik darzulegen, unterbrach dieser seine stockende Rede und zog mit sicherer Hand aus einem Haufen Notenblätter unterm Tisch eine amerikanische Musikzeitschrift hervor und schlug sie sofort an der richtigen Stelle auf – bei einem Aufsatz über den Komponisten Earle Brown. Die Zeitschrift hatte auch die Partitur eines Stücks mit dem Titel Dezember 1952 abgedruckt. Das war ein weißes Blatt Papier mit einer Vielzahl schwarzer Vierecke darauf. Während der verblüffte Sanja die Seite betrachtete, erklärte Kolossow kichernd, das sei noch nicht das Ende der Entwicklung. Später habe Brown ein Stück mit dem Titel 25 Seiten geschrieben, und das seien tatsächlich 25 gezeichnete Seiten, die in beliebiger Reihenfolge und mit einer beliebigen Anzahl Musiker gespielt werden konnten. Das Bild, das Sanja zu entwerfen versuchte, schien eine phantastische Perspektive zu bekommen …
    Wenn nur Juri Andrejewitsch nicht so spöttisch gehüstelt und gekichert hätte. Da begriff Sanja, dass der Lehrer ihn nicht ernst nahm, und verstummte enttäuscht.
    Doch die vagen Evolutionsideen verließen ihn nicht. Erfasst von ungeahnter Kühnheit, arbeitete er insgeheim an der Entwicklung eines universellen Gesetzes, einer Art allgemeiner Theorie musikalischer Systeme. Dieser Ansatz war vergleichbar mit der Entwicklung der allgemeinen Feldtheorie. Wie ein Seidenspinner, der unermüdlich den kostbaren Faden aus sich selbst zieht, spann er um sich herum einen glänzenden Kokon und war bereit, sich darin zu verpuppen, um irgendwann schließlich in eine abstrakte, aber echte Welt vorzudringen. Das war gefährlich, denn wenn er strauchelte, konnte er leicht in die Welt reinen Irrsinns gelangen.
    Kolossow, mit dem er nach wie vor viel Zeit verbrachte, verschaffte Sanja Ende 1967, nach dem Ende des Studiums, eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für internationale Musikgeschichte. Am Theorielehrstuhl war kein Platz für ihn frei. Im Herbst begann Sanja zu unterrichten, befasste sich aber weiterhin mit seinen theoretischen Überlegungen. Sein Verhältnis zu Kolossow kühlte ab. Von ihm hatte Sanja Unterstützung erwartet, aber nur skeptischen Spott geerntet. Das war kränkend.
    In Anna Alexandrownas Herz schlich sich hin und wieder eine gewisse Sorge um Sanja – hatte ihr Junge nicht ein zu hohes Register für sein Leben gewählt?

Schulfreundinnen
    Galja Poluchina, kurz Poluschka 9) , und Tamara Brin, von Olga mit dem Kosenamen Brintschik bedacht, fühlten sich von Kindheit an ein wenig gehemmt in Gegenwart von Olga, ihrer beider einzigen Freundin. Sie hatten Angst, etwas Falsches zu sagen. Und zwar aus reiner Liebe, sie wollten die Freundin nicht mit zu nichtigen oder gar kleinbürgerlichen Äußerungen enttäuschen.
    9) im vorrevolutionären Russland: Viertelkopeke. Anm. d. Ü.
    Beide Freundinnen waren Olga treu ergeben, und neben dem Irrationalen, das jeder Liebe innewohnt, hatte jede ihre eigenen Argumente, ihren durchaus verständlichen Grund für diese begeisterte Hingabe.
    Galja Poluchina stammte aus einer armen Familie und wohnte im Souterrain von Olgas noblem Haus; sie war nicht besonders hübsch und eine mittelmäßige Schülerin. Olga bekam schon in der dritten Klasse den Auftrag, Galja beim Lernen zu helfen, und war auf Anhieb voller Mitgefühl für Galja. Olgas Großmut war untadelig. Sie speiste sich aus der Nachsicht der Reichen und Schönen gegenüber den Armen, Hässlichen, und das arme und hässliche Geschöpf schlang sich wie eine Winde um den soliden Stamm, schlug darin Wurzeln und saugte ihn gemächlich aus. Was Olga dank ihrer unzähligen Gaben und Talente gar nicht bemerkte.
    Poluschka war ein schlichtes Gemüt, sie kannte keinen Neid, verstand nichts vom zwischenmenschlichen Geben und Nehmen, betete Olga an und war ihr dankbar.
    Bei Tamara Brin lag der Fall anders. Im Gegensatz zur fleißigen und strebsamen Olga war Tamara mühelos Bestschülerin, sie erfasste den Schulstoff mit einem kurzen Blick ihrer braunen Augen und eignete ihn sich mit einem einzigen Schlag ihrer traurigen Wimpernflügel an. Sie sah exotisch aus – ihr Äußeres erinnerte an den assyrischen König aus dem Geschichtsbuch, nur trug sie ihre lockige Haarpracht auf dem Kopf und nicht wie besagter König am Kinn. Sie war in gewissem Sinne eine Schönheit. Eine Schönheit für Kenner. Da sie Jüdin war, lebte sie in einem Kokon der Unberührbarkeit, bitter und würdevoll ertrug sie

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