Das gruene Zelt
Zustimmung und räumten ihre Tröge aus der Kammer; nun war Ilja am Zug. Er hatte schon an seinen Vater geschrieben mit der Bitte, ihn bei der Einrichtung einer Dunkelkammer zu unterstützen. Der Vater war gerührt, schickte hundertfünfzig Rubel, und auf der Überweisung standen zwei Zeilen: »Komme zu den Maifeiertagen, dann machen wir alles.« Das war sein letzter Brief – die Maifeiertage erlebte er nicht mehr.
Einen Wasseranschluss bekam die Kammer erst nach anderthalb Jahren, aber Ilja hatte schon jetzt seinen eigenen Winkel, in dem er viel Zeit verbrachte. In einem Bücherschrank vom Sperrmüll verstaute er seine Fotoutensilien.
Das fünfte Schuljahr dehnte sich endlos. Die Jungen waren dreizehn, ihr Testosteronspiegel stieg, die Frühentwickler bekamen bereits Haare an intimen Stellen und Eiterpickel auf der Stirn, alles juckte und tat weh, die Prügeleien und Streitereien nahmen zu, ebenso wie der Drang, sich zu berühren und das undefinierbare körperliche Verlangen zu stillen.
Micha verausgabte sich mit Schlittschuhlaufen. Dank seines heimlichen morgendlichen Trainings lief er bald ausgezeichnet. Außerdem entwickelte er eine Leidenschaft für das Lesen. Er hatte auch schon früher alles verschlungen, was ihm in die Hände gefallen war, nun aber versorgte ihn Anna Alexandrowna mit großartigen Büchern – Charles Dickens, Jack London.
Tante Genja tat Punkt zehn Uhr abends einen trompetenden Schnarcher und schnarchte danach bis zum Morgen leise und gleichmäßig. Minna ging noch früher ins Bett und schlief nach kurzem Herumwälzen rasch ein. Dann schlich sich Micha in die Küche und las dort unter der Gemeinschaftslampe, soviel er wollte – er wurde kein einziges Mal erwischt. Er saß da, polkte an seinen prallen Pickeln und las Jugendbücher, die mit der Unruhe seines Körpers nicht das Geringste zu tun hatten.
Sanja schien nicht nur im Wachstum hinter seinen Freunden zurückzubleiben – mit seiner reinen Stirn, seinem reinen Kragen wirkte er noch immer wie ein Kind. Doch auch in ihm vollzog sich die Mannwerdung. Er verkündete seiner Mutter und seiner Großmutter, dass er nicht mehr zur Physiotherapie gehen werde – es sei sonnenklar, dass seine Hand nicht mehr zu richten sei und er nie Pianist werden würde. Mutter und Großmutter waren Laienmusikerinnen, beide hatten mal von einer Musikerlaufbahn geträumt, die Ausbildung aber abbrechen müssen – ihre Jugendzeit war gänzlich unmusikalisch gewesen, sie war eher erfüllt von jaulenden Trompeten, dröhnenden Pauken, Märschen und Hymnen, die Gassenhauer sein wollten.
Das Beste, was die beiden einsamen Frauen hatten, war Sanja, er sollte Musiker werden, alles lief wunderbar, er hatte eine großartige Lehrerin, die Zukunft stand ihm offen … Nun, nach dem unglücklichen Vorfall mit dem Messer, ging Sanja nicht mehr in die Musikschule. Seine Mutter und seine Großmutter hatten sich rechtzeitig auf das entscheidende Gespräch vorbereitet. Die Großmutter meinte, bei seiner Musikalität solle er nicht endgültig mit der Musik brechen. Auch wenn er kein Profi werden würde, hindere ihn doch nichts daran, zu Hause Klavier zu spielen – die Hausmusik besitze ihren eigenen Reiz. Sanja bockte ein wenig und sträubte sich, doch nach zwei Wochen willigte er ein. Nun übte er zu Hause mit Großmutters Freundin Jewgenija Danilowna.
Er spielte mit seinen zu kleinen, verkrüppelten Händen auf dem geliebten Klavier aus karelischer Birke. Er ließ sich von Chopins Walzern berauschen wie seine Altersgenossen von den Mädchen auf dem Hof, die sie bei Spielen und beim Herumtollen berühren konnten. Er las, spielte Klavier, und manchmal tat er etwas, das für Jungen in seinem Alter eher eine Strafe war – er ging mit seiner Großmutter auf den umliegenden Boulevards spazieren.
Zwei Jahre lang kam Jewgenija Danilowna zu ihm, dann schlief der Unterricht ein. Zum Teil wegen Lisa, die im Gegensatz zu ihm große Fortschritte machte. Das entmutigte Sanja, er verlor die Lust und drückte sich immer öfter.
Sanjas Großmutter war Russischlehrerin und unterrichtete Ausländer. Und was für Ausländer! Junge Leute aus dem kommunistischen China, die an der Militärakademie studieren wollten. Das war der achte oder neunte Beruf, den sich Anna Alexandrowna nach ihrem Gymnasialabschluss angeeignet hatte, und diesmal genügte alles ihren Vorstellungen: Das Verhältnis der Chefs zu ihr, die Teilzeitarbeit und das sehr gute Gehalt mit den diversen Zuschlägen und
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