Das gruene Zelt
Geschenk, und seinen Vater überkam Unmut gegenüber dem Leben, in dem nichts so war, wie es sein sollte. Anstelle der scheuen Maria, deren Unscheinbarkeit eine gewisse Schönheit barg, hatte er die streitsüchtige Sima bekommen und konnte sich nicht mehr erinnern, wie und wieso er unter ihren Pantoffel geraten und ihr Mann geworden war. Er erzählte seinem Sohn, was eine Camera obscura ist, dass eine dunkle Schachtel mit einem kleinen Loch und eine mit einem lichtempfindlichen Material beschichtete Platte genügte, um ein Foto zu machen und einen Moment des Lebens festzuhalten. Maria saß dabei, die Wange auf die Hand gestützt, und lächelte angesichts ihres winzigen Glücks. Ihr genügte schon dieses kleine Körnchen, wie einer Meise. Issai sah das, und er sah, wie rasch Ilja alles erfasste, was für geschickte Hände er hatte – er war ihm ähnlich, ja! –, und reiste mit dem festen Vorsatz ab, seinen Sohn künftig öfter zu sehen. Und Maria, Maria faszinierte ihn jetzt mehr als damals, im Sommer 1938, als er sie vor allem genommen hatte, weil er sich als potenter Mann in den besten Jahren dazu verpflichtet fühlte, nicht aus Verliebtheit. Sein Leben konnte er nicht mehr umkrempeln, dazu war es zu spät. Aber eines konnte er tun: Sima endlich gestehen, dass er einen Vorkriegsspross hatte, den er gern einmal einladen und mit seinen jüngeren Schwestern bekanntmachen würde. Doch dieser Besuch sollte die letzte Begegnung zwischen Vater und Sohn gewesen sein: Zwei Monate später verlor Issai Semjonowitsch seine Arbeit bei »Lenfilm« und starb daraufhin an einem Herzinfarkt.
Bei diesem letzten Mal war der Vater zwei Tage bei ihnen geblieben. Die Mutter weinte wie immer nach seiner Abreise einige Tage still vor sich hin und hörte dann wieder auf. Iljas Leben aber zerfiel von nun an in zwei Teile – die Ära vor dem FED und die mit ihm. Dieser kluge kleine Apparat weckte ein schlummerndes Talent. Ilja hatte schon früher alles gesammelt, was in sein Blickfeld geriet. Bereits in der zweiten Klasse besaß er eine Sammlung von Federn, danach waren es Streichholzetiketten und Briefmarken. All das war vergänglicher Kleinkram. Doch nun begann er, kaum dass er sich die gesamte Technologie angeeignet hatte – von der richtigen Belichtungszeit bis zum Einspannen des Fotopapiers in das Vergrößerungsgerät –, Momente des Lebens zu sammeln. In ihm war die wahre Leidenschaft des Sammlers erwacht, die nie mehr erlöschen sollte.
Zum Ende der Schulzeit besaß er ein recht ordentliches Fotoarchiv: Auf der Rückseite jedes Fotos waren mit Bleistift das Datum, der Ort und die Namen der Personen vermerkt, alle Negative lagen in Umschlägen. Der Fotoapparat veränderte sein Leben auch deshalb, weil sich bald herausstellte, dass er außer dem Apparat eine Menge zusätzlicher Dinge brauchte, die viel Geld kosteten. Ilja dachte gründlich nach, und dann erwachte in ihm ein weiteres Talent: das des Unternehmers. Er bat seine Mutter nie um Geld, er lernte, es selbst zu beschaffen. Die erste Frühjahrsinitiative jenes Jahres war das Klimpern. Dieses Jungenspiel beherrschte er am besten in der ganzen Schule, und später kamen andere Spiele hinzu. Das brachte Einnahmen.
Sanja Steklow missbilligte Iljas Jagd nach Geld, aber Ilja zuckte nur die Achseln.
»Hast du eine Ahnung, wieviel eine Packung Fotopapier kostet? Und Entwickler? Woher soll ich das Geld nehmen?«
Da verstummte Sanja. Geld bekam er von seiner Mutter oder der Großmutter, er ahnte jedoch, dass das nicht unbedingt der beste Weg war.
Die alte Kamera machte Ilja zum Fotografen. Bald wurde ihm klar, dass er ein eigenes Fotolabor brauchte. Normalerweise richteten sich Fotoamateure ein solches Labor im Bad ein, wo es fließendes Wasser zum Wässern der Filme und der entwickelten Fotos gab. Aber in ihrer Gemeinschaftswohnung gab es kein Bad, nur eine Kammer, in der die drei Familien ihre Waschschüsseln und Zuber und andere notwendige Dinge aufbewahrten. Die Kammer lag Wand an Wand mit der Toilette, und Ilja dachte daran, deren Wasseranschluss anzuzapfen. An die Nachbarn, die das gleiche Recht auf diese Kammer hatten, dachte Ilja nicht.
In der Wohnung lebten außer Ilja und seiner Mutter noch die harmlose Oma Olga Matwejewna und die Witwe Granja Loschkarjowa mit ihren drei Kindern – Iljas Mutter brachte die beiden Jüngsten oft in den Kindergarten, in dem sie arbeitete. Überhaupt half sie dieser Granja viel.
Kurz – Iljas Mutter fragte die Nachbarn, die gaben ihre
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