Das gruene Zelt
ein dampfender Haufen. Stoff, Blut, ein verdrehtes Bein. Die Überreste Murygins. Eine schreiende Menschenmenge lief zusammen. Straßenbahnen ratterten heran. Micha stand auf, nahm die Schlittschuhe … Nein, es war nur ein Schlittschuh. Tief gebeugt ging er nach Hause. Barfuß lief er über den eisigen Boden, die Socken waren ihm irgendwie abhandengekommen, doch er spürte nichts. Vor dem Haus schleuderte er den Schlittschuh in Richtung Eisbahn und ging mit klappernden Zähnen in den Hausflur, aus dem er vor genau fünf Minuten hinausgelaufen war.
Er griff nach seinen Schuhen, schlüpfte mit nackten Füßen hinein und rannte zu Anna Alexandrowna. Sie hörte ihn an, sagte kein Wort, füllte einen Teller mit Pilzsuppe und stellte ihn Micha hin.
Als er aufgegessen hatte, brachte sie den schmutzigen Teller in die Küche.
»Das wollte ich nicht, ich schwöre!«, sagte Micha leise zu Sanja.
»Klar, wer will denn so was?« Sanja schüttelte den Kopf.
Das Straßenbahngekreisch tönt schrill und schneidend,
Die ganze Welt – erlosch mit einem Mal.
Was war, das ist und wird auch weiter bleiben.
Jedoch Murygin WAR.
Dieses Gedicht schrieb Micha am Tag von Murygins Begräbnis. Zur Beerdigung kam die ganze Schule, als wäre Murygin ein Nationalheld. Die stellvertretende Direktorin und zwei Schüler der oberen Klassen legten einen Kranz, für den alle gesammelt hatten, auf das Grab; die Inschrift auf der roten Kranzschleife war in Gold gehalten.
Micha, Zeuge und, wie er meinte, Verursacher dieses Todes, durchlebte immer wieder diesen Augenblick, seine blitzartige Zufälligkeit: Die durch die Luft fliegenden Schlittschuhe, der metallische Aufschrei der Straßenbahn und der unordentliche Haufen unter den Straßenbahnrädern anstelle des nichtswürdigen und scheußlichen Jungen, der ihn noch einen Augenblick zuvor verhöhnt hatte und die Straße entlanggerannt war. Unerhörtes Mitleid, zu groß für Michas Kopf, sein Herz und seinen ganzen Körper, überschwemmte ihn – Mitleid mit allen Menschen, guten wie schlechten, weil sie alle so schutzlos weich, so fragil waren und weil beim Zusammenprall mit so einem unverständigen Eisending die Knochen brachen, der Kopf aufplatzte, Blut herausfloss und nur noch ein hässlicher Haufen übrigblieb. Armer, armer Murygin!
Niemand besaß mehr ein Klassenfoto von 1952, nur Ilja. Sämtliche Aufnahmen in seinem Fotoarchiv stammten von ihm selbst, bis auf die ersten beiden.
Das eine hatte Wassili Innokentiewitsch an Sanjas Geburtstag gemacht, das zweite ein Berufsfotograf: vier Reihen unterernährter Nachkriegsjungen. Die Vorderen sitzen auf dem Boden, die Hinteren stehen auf Stühlen, allesamt umrahmt von prallen Ähren, Falten werfenden Fahnen und gewölbten Wappen – dieser dekorative Rahmen war die Basis, die kahlgeschorenen Kinder mit der glubschäugigen Lehrerin in der Mitte waren der Überbau. Mutjukin und Murygin stehen nebeneinander, in der obersten Reihe links. Murygin schaut zur Seite, ein kahlgeschorener kleiner Junge, unscheinbar und harmlos. Sanja Steklow fehlt auf dem Foto – er war krank. Micha sitzt unten ganz am Rand. In der Mitte die Klassenleiterin, ihre Russischlehrerin, deren Namen niemand behalten hat, weil sie bald nach der fünften Klasse in Schwangerschaftsurlaub ging. Mutjukin musste die Fünfte wiederholen und verschwand bald ganz. Er setzte seine Laufbahn in der Berufsschule fort und später im Gefängnis. Murygin war nirgendwo mehr.
Der neue Lehrer
In der sechsten Klasse kam anstelle besagter Russischlehrerin ein neuer Klassenlehrer, Viktor Juljewitsch Schengeli, der russische Sprache und Literatur unterrichtete.
In der Schule wurde er gleich am ersten Tag von allen bemerkt: Er eilte den Flur entlang, der rechte Ärmel seines gestreiften Jacketts war bis kurz unter den Ellbogen aufgekrempelt, und der halbe Arm schwang leicht hin und her. In der linken Hand trug er eine altmodische Aktentasche mit zwei Messingschlössern, die weit älter zu sein schien als der Lehrer selbst. Gleich in der ersten Woche hatte er seinen Spitznamen weg: Der Arm.
Er war noch recht jung und sah gut aus, fast wie ein Filmschauspieler, hatte aber eine allzu lebhafte Mimik: Mal lächelte er grundlos, dann wieder runzelte er die Stirn oder zuckte mit der Nase oder mit den Lippen. Er war sehr höflich, redete alle mit Sie an, war jedoch zugleich äußerst ironisch.
Als erstes fragte er Ilja, als der in seinem schaukelnden Gang zwischen den Bankreihen hindurchging: »Was schwanken
Weitere Kostenlose Bücher