Das gruene Zelt
Sie denn so?«, womit er sich auf der Stelle Iljas Hass zuzog. Dann nahm der Lehrer das Klassenbuch und rief alle einzeln auf. Beim Namen Swinjin 3) – es gab einen solchen unglücklichen Schüler – hielt er inne, betrachtete den Jungen mit dem kleinen Gesicht aufmerksam und bemerkte in einem seltsamen Ton, der respektvoll, aber auch spöttisch gemeint sein konnte: »Ein guter Name!« Die Klasse wieherte bereitwillig los, Senja Swinjin wurde rot. Der Lehrer hob verständnislos die Brauen.
3) Von russ. swinja – Schwein. Anm. d. Ü.
»Warum lachen Sie? Das ist ein ehrwürdiger Name! Die Swinjins waren ein altes Bojarengeschlecht. Peter I. schickte einen Swinjin, den Vornamen habe ich vergessen, zum Lernen nach Holland. Und haben Sie etwa Fürst Serebrjany nicht gelesen? Darin kommt ein Swinjin vor. Ein hochinteressantes Buch übrigens …«
Bereits nach drei Monaten hingen alle, einschließlich Ilja, Senja Swinjin, besonders aber Micha, an den Lippen des neuen Lehrers, erörterten jedes seiner Worte und zuckten genauso mit den Lippen und den Brauen wie er.
Und noch etwas tat dieser neue Lehrer: Er rezitierte Gedichte. Während sich die Schüler setzten und die Hefte auspackten, begann er die Stunde mit einem Gedicht und sagte nie, wer es geschrieben hatte. Seine Auswahl war eigenwillig – mal etwas allgemein Bekanntes wie Es blinkt ein einsam Segel , mal unverständliche, aber einprägsame Verse wie »und blau die Luft, wie frischgestärkte Wäsche« … oder etwas vollkommen Rätselhaftes wie dies:
Es klirrte strenger Frost und »Tristan« lief.
Ein wundes Meer ertönte im Orchester,
Im himmelblauen Nebel grünes Land.
Das Herz hat plötzlich aufgehört zu schlagen.
Nein, keiner sah, wie ins Theater kam
und Platz genommen hatte in der Loge
die Schöne, sie entsprang Brjullows Gemälde.
Denn solche Frauen leben in Romanen,
man trifft sie auf der Leinwand und in Dramen …
Für sie verübt man jegliches Verbrechen,
liegt auf der Lauer in Erwartung ihrer Kutschen
und auf dem Dachboden nimmt man dann Gift …
Micha trieben solche Verse das Blut ins Gesicht, während sie die anderen völlig kaltließen. Aber der Lehrer schaute auch vor allem zu Micha. Micha war fast der Einzige, der Verse verschlang wie einen Löffel Marmelade. Sanja belächelte die Schwäche des Lehrers nachsichtig – manche Gedichte kannte er von seiner Großmutter. Die anderen Jungen verziehen dem Lehrer diese Leidenschaft. Gedichte waren ihrer Ansicht nach etwas für Frauen, nichts für einen Frontsoldaten.
Doch manchmal bezog sich ein Gedicht auch unmittelbar auf den Unterrichtsstoff – als sie mit Taras Bulba begannen, kam der Lehrer in die Klasse und rezitierte Verse, bei denen es eindeutig um Gogol ging:
Wie ein Rätsel eigenartig
strahltest auf wie ein Gestirn,
unser Spötter, der uns narrte,
mit der gramvoll düstren Stirn.
Unser Hamlet! Lachen, Tränen
heimlich weinend, froh der Blick.
Der Erfolg schien Dir beschämend,
so wie andren Missgeschick.
Hast genossen und erlitten
Deinen Ruhm – mit Lust und Leid,
tätig, rastlos und zerrissen,
mit dem innren Sturm im Streit.
Ein verschlossner Mönch im Geiste,
dessen spitze Feder droht,
Arzt und gnadenlose Geißel
unsrer Schwächen, unsrer Not!
Für alles, buchstäblich für alles im Leben hatte er einen Vers parat!
»Wir beschäftigen uns mit der Literatur«, verkündete er ständig, als wäre das eine Neuigkeit. »Die Literatur ist das Beste, was die Menschheit besitzt. Die Poesie ist das Herz der Literatur, die höchste Konzentration des Besten, das auf der Welt und im Menschen existiert. Sie ist die einzige Nahrung für die Seele. Und es hängt von euch ab, ob ihr zu Menschen heranwachst oder auf dem Niveau von Tieren stehenbleibt.«
Später, als er alle Jungen mit Namen kannte und für sich sortiert hatte – nicht wie auf dem jährlichen Klassenfoto und auch nicht nach dem Alphabet, sondern auf seine eigene Weise –, als sie alle sich nähergekommen waren bei Gesprächen über die Helden der Schullektüre – den listigen Odysseus, den geheimnisvollen Chronisten Pimen, den unglücklichen Sohn von Taras Bulba, den ehrlichen, einfältigen Alexej Berestow und die dunkelhäutige kluge Akulina –, fingen die Kinder an, ihn über den Krieg auszufragen. Und da wurde sofort klar, dass Viktor Juljewitsch die Literatur liebte, den Krieg hingegen gar nicht. Ein komischer Mensch! Zu jener Zeit schwärmten schließlich alle Halbwüchsigen und jungen Männer, denen es nicht mehr
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