Das gruene Zelt
Privilegien, darunter ein ausgezeichnetes Armee-Ferienheim, in das sie einmal im Jahr kostenlos fahren durfte.
Sanjas Mutter Nadeshda Borissowna war Röntgenassistentin. Ein gefragter Beruf, zwar gesundheitsschädigend, aber dafür mit verkürzter Arbeitszeit und kostenloser Milchzuteilung. Die Familie war also gut versorgt, dennoch war ihr Leben nicht einfach: Es war voll latenter Unzufriedenheit. Mutter und Tochter hatten beide sowohl die Männer verloren, mit denen sie verheiratet gewesen waren, als auch die, die nie ihre Ehemänner geworden waren. Doch die taktlose Frage nach dem Verbleib ihrer Männer stellte niemand. Wer es wissen musste, wusste Bescheid. Und ließ sie zum Glück in Ruhe.
Micha verbrachte viel Zeit bei den Steklows. Sanja berührte mit den Fingern die Tasten, und sie reagierten. Es war wie ein Zwiegespräch zwischen dem Jungen und dem Instrument, in dem Micha einen geheimen Sinn erahnte, den er jedoch nicht recht erfassen konnte.
Er saß in der Ecke, raschelte mit Buchseiten und wartete auf Anna Alexandrowna, um mit ihr zu reden. Sie stellte ihm Kekse und eine Tasse Tee mit Milch hin und setzte sich zu ihm – mit einer Papirossa, die sie in den elegant gebogenen Fingern hielt und kaum rauchte. Manchmal stand Sanja von seinem Instrument auf und setzte sich auf eine Stuhlkante, was die beiden jedoch ein wenig störte. Micha war rasch aus Dickens herausgewachsen, und Anna Alexandrowna hatte ihm ohne viel zu überlegen Puschkin gegeben.
»Aber den hab ich doch schon gelesen!«, sträubte sich Micha.
»Das ist wie das Neue Testament, das liest man sein Leben lang.«
»Dann geben Sie mir lieber das Neue Testament, das habe ich nämlich noch nicht gelesen …«
Anna Alexandrowna lachte und schüttelte den Kopf.
»Deine Familie wird mich dafür umbringen. Aber es stimmt schon, ohne das Neue Testament versteht man eigentlich kein einziges Werk der europäischen Literatur. Von der russischen ganz zu schweigen. Sanja, mein Lieber, bring mir bitte das Neue Testament.«
»Anjuta«, tadelte er seine Großmutter scherzhaft, »das ist Verführung Minderjähriger.«
Doch er brachte das Buch mit dem schwarzen Einband.
Sie verabredeten, dass Micha es nur bei ihnen lesen und niemandem davon erzählen würde. Micha fühlte sich plötzlich reich: Er hatte ein Zuhause mit seinem eigenen Klappbett, Tante Genja und ihre Suppen, die dicke debile Minna, die ihn ständig mit ihrer Hüfte oder ihrer vollen Brust streifte, die Freunde Sanja und Ilja, Anna Alexandrowna, die Schlittschuhe, Bücher …
Mitte März begann es zu tauen, die Eisbahn schmolz, und Micha rieb die Schlittschuhe dick mit Maschinenfett ein, wie sein Cousin Marlen es ihm beigebracht hatte – zum Schutz. Aber zu früh: Es gab noch einmal Frost, die Eisbahn fror wieder zu, und Micha schnallte sich erneut die Schlittschuhe unter. Doch der Winter würde bald vorbei sein, deshalb ging Micha nun auch nachmittags hinaus auf den Hof. So geschah es, dass alle seinen Schatz sahen. Solche Schlittschuhe hatte sonst niemand, die meisten schnallten sich irgendwelche Kufen unter die Filzstiefel, nur Micha besaß richtige Schlittschuhe mit Schuhen. Die Kunde davon verbreitete sich rasch in den benachbarten Höfen. Nach zwei Tagen kam Murygin, die Schlittschuhe ansehen. Er stand eine Weile da, schaute und ging wieder. Als Micha am nächsten Tag von der Hofeisbahn zurückkam, drückten ihn Mutjukin und Murygin im Hauseingang gegen die Wand.
Die Sache war klar: Sie wollten die Schlittschuhe haben.
»Ausziehen, los!«, verlangte Mutjukin.
Murygin drehte Micha den Arm um, Mutjukin trat ihm gegen das Knie, und Micha ging zu Boden. Geschickt rissen die beiden ihm die Schlittschuhe herunter und liefen davon. Micha rannte in Wollsocken hinterher. Am Tor holte er die beiden ein und krallte sich an Murygin fest. Der warf die Schlittschuhe Mutjukin zu. Mutjukin rannte damit die Pokrowka entlang, Micha brüllend seinen Schlittschuhen hinterher, in Richtung Miljutin-Garten, dort gab es eine Eisbahn.
Vom Tschistoprudny-Boulevard kam langsam eine Straßenbahn gekrochen. Micha hatte Mutjukin fast eingeholt – der warf die Schlittschuhe Murygin zu, doch Murygin fing sie nicht, sie landeten zwischen den Gleisen. Alle drei stürzten dorthin. Die Straßenbahn kreischte auf, quietschte, klingelte wie verrückt und knirschte laut. Micha fiel hin. Als er die Augen öffnete, lagen die Schlittschuhe direkt vor seiner Nase. Mutjukin war nicht zu sehen. Vor der Straßenbahn lag
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