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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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fragte Alexandrow nach Tamara Brin.
    »Nein, wir sehen uns nicht mehr. Früher waren wir befreundet, aber jetzt geht sie ganz in ihrer Wissenschaft auf und hat mit niemandem mehr Kontakt.«
    »Wieso mit niemandem? Mit Marlen Kogan zum Beispiel hat sie Kontakt. Und lernt Hebräisch.«
    Olga hob erstaunt die Brauen.
    »Ach was? Tatsächlich?«
    »Hier stelle ich die Fragen, und Sie antworten. Olga Afanassjewna, Sie halten sich offenbar für sehr klug und scharfsinnig.« Er lächelte, wobei er große Zähne entblößte, und Olga wurde auf einmal ganz mulmig. Sie fühlte sich nackt, ungeschützt gegen Bisse und Stiche, wie ein Weichtier ohne Panzer. Augenblicklich begriff sie, dass sie eine Unterbrechung brauchte, und erklärte, sie müsse auf die Toilette.
    Alexandrow telefonierte, eine Frau mit dickem Hintern kam herein und führte Olga durch den bizarr gewundenen Flur zur Toilette. An einem Nagel in der Kabine hing in kleine Quadrate geschnittenes Zeitungspapier. Olga hockte sich über die saubere Schüssel ohne Brille und dachte: Wie mag wohl das Klo des FBI aussehen? Sie musste so laut lachen, dass die Bewacherin zusammenzuckte. Die kurze Atempause hatte geholfen: Olga hatte ihre Gedanken wieder beisammen, auch ihre Kräfte. Ob das mit Tamara gelogen war? Nein, wahrscheinlich nicht. Warum hatte sie dann nichts davon erzählt? Seltsam, seltsam. Hatte sie etwa ein Verhältnis mit Marlen? Davon hatte sie nie ein Wort gesagt. Wie eine Partisanin! Und Marlen war auch gut! Der mit seinem Familien-Fimmel, mit der strikten Einhaltung der Gebote, diesem ganzen Koscher-Quatsch. Olga fiel ein, dass Marlen bei ihnen nie etwas aß, nur Wodka trank. Wodka, behauptete er, sei immer koscher. Dieser ungepflegte Zottelbart, diese unmögliche Figur – großer Kopf mit langen Locken, extrem breite Schultern und kurze Beine. Aber klug war er, sehr klug, er hatte eine ganze Bibliothek im Kopf, gut sortiert: Geschichte, Geographie, Literatur. Er war schon großartig, aber trotzdem … Seltsam, dass Tamara auf ihn geflogen war! Die Befragung ging weiter.
    Dann schaute der Hauptmann auf die Uhr, ging hinaus, kam nach zehn Minuten wieder, schaute erneut auf die Uhr, knurrte Alexandrow etwas zu, und der schlug einen anderen Ton an – als hätte auf der Uhr des Hauptmanns ein Befehl gestanden.
    »So. Es reicht. Gehören die Bücher Ihnen oder Ihrem Mann?«
    »Mir natürlich. Die Bücher bei mir zu Hause gehören mir.«
    »Alle?«
    »Na ja, einige hat vielleicht jemand anders dagelassen. Aber die meisten gehören mir.«
    »Welche dieser Bücher gehören nicht Ihnen?«
    »Nein, nein, sie gehören mir«, korrigierte sich Olga.
    »Woher haben Sie sie?«
    »Wir kaufen Bücher. Wir sind Leseratten, wir kaufen viele Bücher.«
    »Wo?«
    »Nun, wissen Sie, es gibt in Moskau einen Schwarzmarkt, da kriegt man alles, ausländische Klamotten, Parfüm, Bücher …«
    »Und wo ist dieser Markt?«
    »Ach, ganz verschieden. Einiges habe ich auf der Kusnezki-Brücke gekauft.«
    »Genauer, genauer. Wo dort?«
    »Da ist der Moskauer Büchertrödel. Da gibt es alles Mögliche.«
    »Da stehen also Leute und bieten einfach so Bücher an wie«, er zog das Buch von Awtorchanow aus dem Stapel, » Die Technologie der Macht ?«
    »Ja.« Olga nickte.
    Dann zog er ein Buch nach dem anderen heraus und hielt es vor ihr hoch. Der Hauptmann ging zweimal hinaus und kam wieder zurück.
    »Tja, was soll ich Ihnen sagen, Olga Afanassjewna? Diese ganze Büchergeschichte fällt unter antisowjetische Tätigkeit gemäß Paragraph 190 Strafgesetzbuch. Strafmaß – drei bis fünf Jahre. Das haben Sie womöglich nicht gewusst?« Letzteres klang sogar mitfühlend.
    Olga, von klein auf von allen Seiten verwöhnt mit Sympathie, Liebe und Bewunderung, litt am meisten unter dem vollkommen undefinierbaren Verhältnis ihres Gegenübers zu ihr. Er war ein recht unangenehmer Mensch, a priori ein Feind, aber instinktiv vertraute sie noch immer auf ihren Charme. Koketterie und Selbstsicherheit drangen unwillkürlich durch die Zurückhaltung, die sie zur Richtlinie ihres Verhaltens gemacht hatte. Doch ihr Gegenüber war taub und gefühllos, und sie kam immer mehr durcheinander, ertappte sich bei ihrer inneren Inkonsequenz und litt schrecklich darunter, weil sie keine Ahnung hatte, wie das hier enden würde: würde man sie freilassen, verhaften, umbringen … Nein, umbringen natürlich nicht, aber zeitweise überkam sie eine furchtbare, animalische Angst, die alles Menschenmögliche überstieg.

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