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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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meinem Dienstgrad und meiner Position habe ich mit operativer Tätigkeit im Grunde nichts zu tun. Trotzdem ist das bei Ihnen beschlagnahmte Material auf meinem Schreibtisch gelandet.«
    Ein Oberst, mindestens, entschied Ilja.
    »Mit großem Interesse habe ich gelesen, was Sie in Ihrer Jugend geschrieben haben. Ich gebe zu, die Geschichte der Ljurssy hat mich gerührt. Sie haben gewissermaßen Glück, dass die Zeiten milder geworden sind und Ihre tiefschürfende Beschäftigung mit der Literatur Sie nicht an Orte gebracht hat, wo man mit Spitzhacke und Spaten arbeitet statt mit Stift und Gänsekiel. Aber diese Protokolle der Ljurssy-Treffen von 1955 bis 1957, die Fotos, Berichte und Aufsätze – das ist professionell, die Arbeit eines Historikers und Archivars, und es hat mich beeindruckt, dass dies quasi ein Kind gemacht hat, ein Schüler. Wirklich hervorragend! Und Ihr Lehrer – was für eine markante Person! Ich war in meiner Jugend flüchtig mit ihm bekannt. Treffen Sie sich noch mit ihm und mit Ihren Schulfreunden?«
    »Nein, praktisch nicht«, parierte Ilja diesen Hieb, der eher ein leichter Ballwurf war. Klar, gleich kommt er auf Micha zu sprechen.
    »Es ist in der Tat interessant zu verfolgen, wie die Schicksale von Menschen verlaufen. Selbst am Beispiel von Personen aus einer Klasse, aus einem Hof …«
    Eindeutig, er hat es auf Micha abgesehen. Oder auf Viktor Juljewitsch?, überlegte Ilja. Natürlich, der Briefwechsel mit Häftlingen, die Pakete in seinem Namen … Aber der Mann palaverte immer weiter, kein Wort von Micha.
    »Das ganze Jahr 1956 hindurch hat Ihr Zirkel sich mit den Dekabristen beschäftigt. Wunderbare Aufsätze haben die Schüler geschrieben. Natürlich hängt alles vom Pädagogen ab. Meine Tochter steht kurz vorm Abschluss der zehnten Klasse, ihre Literaturlehrerin ist eine alte Frau, die kaum etwas von ihrem Fach versteht. Und deshalb interessieren sich auch die Kinder nicht im Geringsten dafür.«
    »Ja, natürlich, da hängt viel vom Lehrer ab«, stimmte Ilja ihm zu.
    »Aber Sie hatten Glück mit Ihrem Lehrer!«
    Pause. Durchatmen. Ob ich nach der Schreibmaschine frage? Ach, die rücken sie sowieso nicht wieder raus!
    Das Gesicht des »Obersten« spiegelte Nachdenklichkeit.
    »Ich habe mich seinerzeit auch sehr für die Dekabristen interessiert. Mich interessierten in erster Linie die Ermittlungsakten. Die Aufzeichnungen der Untersuchungskommission sind eine äußerst spannende Lektüre. In den Memoiren der Dekabristen steht viel über die Zeit in der Festung, über die Etappenmärsche, über Zwangsarbeit und Verbannung, aber kaum etwas über die Verhöre. Alle Dekabristen, bis auf Trubezkoi und Bassargin, schweigen sich darüber aus. Was denken Sie, warum, Ilja Issajewitsch?«
    Ilja dachte darüber gar nichts, ihn bewegte etwas anderes: Er begriff nicht, was dieses Gerede von Zwangsarbeit und Verbannung sollte.
    »Und was ist mit denen, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verhört wurden, sind da denn viele Zeugnisse überliefert?«, wand sich Ilja heraus.
    »Über die Prozesse der Stalinzeit gibt es jede Menge Material! Dabei mussten die Dekabristen nie eine Verpflichtung zum Stillschweigen unterschreiben, erst hundert Jahre später wurde das allgemeine Praxis. Ich habe alles gelesen, was von den Archiven der Untersuchungskommission zugänglich ist, und ich kann Ihnen sagen, warum die Dekabristen es vermieden haben, über die Verhöre zu schreiben.«
    Seine Tränensäcke zuckten, er zeigte ein trauriges Lächeln.
    »Sie haben gegeneinander ausgesagt. Ja, ja. Und zwar nicht aus Angst, sondern aus Ehrgefühl. Wie lächerlich das in unserer Zeit auch klingen mag, aber sie hielten sich an den Grundsatz, dass Lügen schlecht ist.«
    Der Hundesohn, er will mir erzählen, dass Lügen schlecht ist! Der spinnt doch dieses ganze Garn nur, um mich durcheinanderzubringen.
    Aber Ilja hatte sich durchaus in der Hand.
    »Wir haben in der Schule gelernt, dass die Dekabristen heldenhaft gehandelt haben, dass ihre Verschwörung zum Scheitern verurteilt war, weil es eine Verschwörung von Adligen war, ohne jede Verbindung zum Volk, zur Bauernschaft …«, sagte Ilja träge.
    Tschibikow verzog das Gesicht.
    »Klar, das steht in den Schulbüchern! Aber darum geht es nicht. Leider hat ihr ganzes Heldentum genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie wollten: Sie haben die Reformen verzögert, die der Zar bereits vorbereitete. Die Leute, von denen die Dekabristen vor Gericht gestellt

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