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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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für mein Privatarchiv. Im Interesse der Geschichte, wenn Sie so wollen. Und auch in Ihrem Interesse.«
    Tja, sie haben mich am Arsch. Die Schreibmaschine spielt keine Rolle mehr. Anscheinend interessiert sie nicht einmal das GULAG -Manuskript. Sie wollen mich, mit Haut und Haar. In Iljas Kopf pochte es nicht mehr, jetzt musste er seinen Verstand benutzen, einen Ausweg suchen. Sein Gesicht hatte er unter Kontrolle, es sah nachdenklich aus, aber seine Hände waren schweißnass.
    »Sie spielen ein gefährliches Spiel, und ich empfinde Respekt für Sie, aber ich habe Ihnen ja gesagt, was ich von radikalen Bewegungen in unserer Gesellschaft halte. Seit der Revolution von 1917 sind sie alle zum Scheitern verurteilt und vor allem absolut sinnlos. Das ist schlichte Dialektik. Irgendwann werden Sie das einsehen, ich hoffe, nicht zu spät. Offen gesagt, es kümmert mich wenig, wie Sie über Ihre künftigen Arbeiten verfügen werden. Sie wissen ja bereits, die operative Arbeit ist nicht meine Ebene. Wenn Sie meinen Vorschlag annehmen, können Sie viel Interessantes erreichen. Außerdem ist mir klar, dass jemand, der schon mit fünfzehn Jahren ein so wunderbares Archiv zusammentragen konnte – ich rede von Ihren Ljurssy –, auch Größeres leisten kann.«
    Er sah auf die Uhr.
    »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass unser Gespräch streng vertraulich ist. In Ihrem wie in meinem Interesse.«
    »Ich kann unser Gespräch nicht als vertraulich betrachten, Anatoli Alexandrowitsch.« Ilja schluckte und zeigte auf die halboffene Tür.
    »Das muss Sie nicht beunruhigen. Niemand hat Sie hier gesehen. Und das wird auch so bleiben. Stellen Sie sich bitte mit dem Gesicht zum Fenster. Ja, genau so.« Dann hob Anatoli Alexandrowitsch die Stimme und rief im Befehlston: »Vera Alexejewna, Sie können gehen.«
    Absätze klapperten, die Zimmertür quietschte, das Schloss klackte.
    »Es ist alles nicht so simpel, wie es Ihnen scheint, Ilja Issajewitsch«, sagte Tschibikow traurig.
    Ilja schwieg.
    »Sie müssen sich heute entscheiden. Heute kann ich noch etwas für Sie tun«, sagte der »Oberst« mit tiefer, samtiger Stimme. »Morgen kann ich das nicht mehr.«
    Also wenn ich jetzt nein sage, komme ich hier nicht mehr raus. Mein ganzes Material haben sie sowieso schon. Es geht nur darum, dass ich weiter so lebe wie bisher, aber nicht mehr für mich arbeite, sondern für sie. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen …
    »Außerdem – das sage ich nur der Vollständigkeit halber –, wenn ich mich jetzt nicht einmische und der Fall wieder zurückgeht …«
    Pause.
    »… an die zuständige Stelle, dann wird man nicht nur Sie, sondern auch Ihre Frau zur Verantwortung ziehen. Auch wenn wir annehmen, die Bücher haben Sie zu ihr gebracht, aber die Schreibmaschine – das geht auf ihr Konto. Genau wie das Solshenizyn-Manuskript. Sie gefährden also nicht nur sich selbst, Sie gefährden auch sie. Unter uns – schließlich haben Sie sie in diese zweifelhafte Tätigkeit hineingezogen. Das ist ein ernsthaftes Argument. Noch habe ich die Möglichkeit, die Sache einzustellen.«
    Sie haben mich am Arsch. Ein simples Matt. Mein geliebtes Mädchen, dich liefere ich nicht ans Messer.
    »Das ist ein Gentlemen-Agreement zwischen uns beiden. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Meine Privatnummer. Wir werden nicht regelmäßig Kontakt haben – Sie werden mich anrufen, wenn Sie etwas Interessantes haben. Sie entwickeln so viele Exemplare, wie Sie für Ihre Arbeit brauchen, und mir geben Sie die Negative.«
    »Die Negative, das geht zu weit«, unterbrach ihn Ilja.
    Aber der »Oberst« wusste, dass er gewonnen hatte. Er lachte.
    »Sie setzen mich ja komplett matt!«
    »Nein, wenn wir eine geschäftliche Vereinbarung treffen, muss ich meine Interessen verteidigen.«
    Tschibikow sah ihn respektvoll an.
    »Gut. Die Negative bleiben bei Ihnen. Nur noch eins: Ihre Unterschrift!«
    »Aber das ist doch ein Gentlemen-Agreement!«, empörte sich Ilja.
    »Tja, auch ich muss meine Interessen verteidigen!« Anatoli Alexandrowitsch lachte.
    Beide Zigarettenschachteln waren leer. Die verschwommenen Jungen hinter dem Rauchschleier zogen noch immer ihr Netz heraus.
    Als Ilja das Hotel verließ, war es schon dunkel. Doch der scheußliche herbstliche Nieselregen dauerte an.

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