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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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wurden, und das waren ihre Verwandten, Regimentskameraden, Freunde, die arbeiteten an der Festigung des Staates, sie dagegen an dessen Schwächung. Die einen wie die anderen wussten, dass Reformen notwendig sind, doch durchgeführt haben diese Reformen nicht die Dekabristen, sondern ihre Gegner. Die Geschichte ist dialektisch, wie das Leben selbst, und scheint mitunter paradox. Staatspolitik haben nicht die Radikalen gemacht, sondern die Konservativen!«
    Worauf will er nur hinaus? Hat er mich herbestellt, um über theoretische Themen zu reden? Aufpassen, gut aufpassen. Ilja verlor nicht die Kontrolle.
    »Russland war noch nie so stark wie zu unserer Zeit. Nur ein Abschnitt in der Geschichte Russlands ist mit heute vergleichbar – der unter Alexander dem Befreier. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hat Russland Europa befreit, genau wie in der Mitte des zwanzigsten. Der Dekabristenaufstand hat Russland um Jahrzehnte zurückgeworfen! Aber die Geschichtsschreibung rühmt Murawjow-Apostol und verurteilt Murawjow den Henker. Dabei ist das eine Familie, ein Kreis! Wissen Sie, dass der Dekabrist Fürst Sergej Wolkonski nach seiner Rückkehr aus der Verbannung, schon als alter Mann, vor seiner Abreise ins Ausland zum Abschied das Grab Benkendorffs aufsuchte, des Chefs der Dritten Abteilung, seines Freundes und Regimentskameraden?«
    Tschibikows Sprache war kultiviert. Auch sein Vokabular, sein Ton … Ob er wirklich Oberst war? Oje, das wird ernst.
    »Sie und Ihre Freunde haben eine falsche Vorstellung sowohl von der Geschichte Russlands als auch vom russischen Staat.«
    Die Geschichte des russischen Staates interessierte Ilja im Augenblick keinen Deut. Ihn beschäftigte etwas anderes: Sie hatten seine Fotosammlung beschlagnahmt, ein Teil dieser Aufnahmen war in den Westen geschickt und dort in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt worden. Wenn sie diese Ausgaben in die Hände bekamen, war er als Urheber überführt. Von den zahlreichen hinausgeschmuggelten Fotos waren mindestens elf im Ausland veröffentlicht worden. Oder zwölf. Und da konnte er sich nicht herauswinden.
    Ilja seufzte.
    Der »Oberst« schien seine Gedanken zu lesen.
    »Die Porträtfotos, die bei Ihnen beschlagnahmt wurden, werden in hundert Jahren womöglich einmal in Geschichtsbüchern abgedruckt. Wie die Porträts von Karakosow oder Kaljajew. Aber vielleicht auch nicht. So oder so sind sie von historischem Wert.«
    Ilja wusste noch immer nicht, ob sie sein Archiv mit westlichen Veröffentlichungen verglichen hatten oder nicht. Na schön, wenn du mir so kommst, bitte sehr …
    (Er hatte ganz vergessen, dass er sich dumm stellen wollte.)
    »Geschichte ist das eine, der KGB etwas anderes. Das sollte man nicht in einen Topf werfen. Das ist meine persönliche Sammlung, und diese Fotos habe ich, nebenbei gesagt, nicht für die Geheimpolizei gemacht«, sagte Ilja.
    »Ich fürchte, Ilja Issajewitsch, Sie haben nicht die geringste Ahnung von den Aufgaben einer Geheimpolizei. Aber ich kann Ihnen versichern – in Bibliotheken, in Privatarchiven und in Museen verschwinden Dinge. Sie werden gestohlen, verkauft, getauscht, mitunter absichtlich vernichtet. In den Archiven der Geheimpolizei aber kommt nie etwas abhanden. Eine andere Sache ist, dass nur ein begrenzter Personenkreis Zugang dazu hat. Aber glauben Sie mir, das ist der sicherste Aufbewahrungsort. Dort geht nichts verloren! Eben dort wird die historische Wahrheit aufbewahrt.«
    »Verzeihen Sie, aber ich würde es vorziehen, meine Sammlung bei mir zu Hause aufzubewahren.«
    »Darum hätten Sie sich eher kümmern müssen. Jetzt ist sie nicht mehr in Ihrem Besitz.« Der »Oberst« erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem tiefen Sessel – die Bandscheiben oder Hämorrhoiden –, schob den Theatervorhang auf und ging ins Nebenzimmer.
    Ilja sah auf die Uhr. Das Gespräch dauerte schon fast zwei Stunden, was er gar nicht gemerkt hatte. Er hatte eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht, der Rauch hing unter der Decke. Schlechte Lüftung. Die Jungen auf dem Bild, nun im Schatten, zogen noch immer das Schleppnetz aus dem Wasser.
    Aus dem Nebenzimmer drang Geraschel, das nicht nach Papier klang, und Ilja begriff erst jetzt, dass dort von Anfang an jemand gesessen hatte. Im Hinterhalt. Kurz darauf kam Tschibikow zurück, eine Mappe in der Hand.
    »Sitzt da jemand im Hinterhalt?«, fragte Ilja ungeniert.
    Anatoli Alexandrowitsch lächelte und schüttelte den Kopf.
    »Die Polizei, Ilja Issajewitsch, ist

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