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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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eine Schlingpflanze, die alle Bereiche staatlicher Strukturen und Apparate umfasst. So hat ein kluger Mann einmal die Geheimpolizei definiert. Das da ist nur ein kleiner Ableger, ein Seitentrieb sozusagen.« Er nickte zum Schlafzimmer hinüber.
    Er entnahm der Mappe ein Exemplar einer russischsprachigen Emigrantenzeitung – auf der Titelseite prangte ein Foto von Anatoli Martschenko.
    »Da schauen Sie, wie interessant! Das Foto stammt aus Ihrem Archiv. Übrigens eine recht absurde Geschichte. Ein junges Mädchen vervielfältigt eifrig Aufrufe zur Verteidigung dieses Martschenko, den Sie fotografiert haben. Es gab ja eine regelrechte Kampagne für die Freilassung dieses gewöhnlichen Kriminellen. Und nun stellen Sie sich vor, dieses liebe Mädchen lässt die Tasche mit einem Packen Aufrufe und mit allen seinen Papieren im Taxi liegen. Sie hätten lieber dieses Mädchen fotografieren sollen. Eine Meisterin der Konspiration! Aber das Porträt von Martschenko ist gut. Kennen Sie ihn schon lange? Das ist doch ein recht altes Foto, nicht? Zwischen 1966 und 1968? Nach seiner ersten Haft ist er irgendwo untergetaucht. Ein gutes Foto! Bei einem Zeitungsabdruck leidet die Qualität natürlich. Hier sind noch ein paar Ihrer Arbeiten, nicht alle von guter Qualität. Aber wem wollte man da einen Vorwurf machen? Im ›Stern‹ ist die Qualität etwas besser.«
    Es geht also nicht um Micha. Viel schlimmer. »Russkoje slowo« und der »Stern«. Was kommt jetzt wohl noch? Die Mappe hat einen ziemlich festen und breiten Rücken, schwer zu sagen, ob sie voll ist oder nur zwei Blätter drinliegen …
    »Auf geheimnisvollen Wegen gelangen die Fotos in westliche Zeitungen. Vielleicht über Ihren belgischen Freund Pierre Sand? Eine höchst zwielichtige Person übrigens, er arbeitet für einen westlichen Nachrichtendienst. Und ist auch uns hin und wieder behilflich.«
    Oje, da bin ich ja schön aufgeflogen! Das mit Pierre ist natürlich gelogen. Aber sie haben eins und eins zusammengezählt, die Schweine. Und ich Idiot hab gehofft, das würden sie übersehen. Die von der Lubjanka, das waren primitive Schnüffler, aber der hier spielt in der obersten Liga.
    »Nein, nein, diese Frage interessiert mich gar nicht. Mich beschäftigt etwas anderes: Dieses Material muss erhalten werden. Das, was bei Ihnen beschlagnahmt wurde, ist jetzt sicher. Das wird ewig aufbewahrt. Jedenfalls relativ. Aber was ist mit den Fotos, die Sie morgen machen werden, übermorgen, in einem Jahr? Natürlich nur, wenn Sie nicht morgen eingesperrt werden. Ich muss gestehen, Sie sind mir sympathisch, Ilja Issajewitsch. Ich wünsche Ihnen weder Gefängnis- noch Lagererfahrung. Aber das hängt ganz von Ihnen ab. Das wird sich binnen kurzem entscheiden. Strenggenommen ist es schon entschieden.«
    Pause.
    Ilja saß reglos da, zuckte nicht mit der Wimper, doch in seinem Hinterkopf pochte es erneut. Es war ein Gefühl, als hätte sein Herz ausgesetzt und dann mit Macht wieder angefangen zu schlagen. Ich habe doch einen Herzfehler, schoss es ihm durch den Kopf. Sie können mir alles Mögliche anhängen, bis zu Spionage. Und das bedeutet mehr als drei Jahre. Was ist das Gefährlichste? Das Sacharow-Foto vielleicht? Das ist nicht mehr im Haus. Als er sein Memorandum an die Sowjetische Regierung abgeschickt hat, habe ich das Foto an Klaus gegeben. Aber es war nicht in den deutschen Zeitungen. Oder doch?
    »Aber ich habe, offen gestanden, bestimmte Sondervollmachten. Ich werde Ihnen jetzt einen Vorschlag unterbreiten, über den Sie nachdenken sollten. Vielleicht wird dieser Vorschlag Sie überraschen. Oder Sie, was ich nicht ausschließe, zunächst sogar empören. Aber denken Sie erst einmal darüber nach.«
    Pause. Zum Nachdenken?
    »Sie haben eine falsche Vorstellung von unserer Organisation. Sie ist nicht mehr dieselbe wie in den dreißiger oder vierziger Jahren. Wir haben neue Ideen, neue Kräfte, neue Leute. Im Land vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen, die noch nicht von allen wahrgenommen werden. Diese Veränderungen sind womöglich weit tiefgreifender und radikaler, als Sie ahnen. Es ist alles nicht so simpel, wie Sie es sehen. Ich möchte, dass Ihre Serie nicht mit Ihrem bislang letzten Foto endet. Ich meine das Foto von Professor Sacharow. Ich möchte, dass Sie Ihre Arbeit fortsetzen. Ich bin bereit, für Sie zu bürgen. Meine Bedingung: Von allem, was Sie machen, muss es zwei Exemplare geben. Eins behalten Sie, das Duplikat bekomme ich. Ich betone – ich. Quasi

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