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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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später, wunderte sich Tamara nachträglich: Was hatte sie so verrückt gemacht, dass sie alles auf der Welt vergaß über dieser simplen mechanischen Übung – diesem Rein-Raus? Warum entschwebte sie dabei in so unaussprechliche Höhen? Das Ganze lag doch nur an zwei aneinanderhängenden Steroidringen mit einem weiteren rechts oben und einem halben an der Seite sowie an einer gewissen Turbulenz der Radikale, die um diese Ringe herum entstanden. Gerade sie kannte doch die biologische Formel der Macht über Körper und Seele in- und auswendig.
    Nun empfand sie nur noch Peinlichkeit, sogar verspätete Scham. Auch für ihn: Der arme Marlen, warum hatte er sich so unschön verhalten? Auch ihn hatten die Hormone beherrscht.
    An jenem vorletzten Dezembersamstag, als ihr Herzschlag sich noch nicht wieder beruhigt hatte und seine feuchte behaarte Brust sich eng an sie presste, hatte er sachlich gesagt:
    »Am Mittwoch muss ich wieder zu einem Gespräch. Sie kommen mir jetzt mit einer neuen Masche, sie sagen: Sie sind nicht nur ein Zionist, Sie markieren auch noch den Menschenrechtler. Weil ich den Aufruf zur Legitimierung der Emigration unterschrieben habe. Seit der Demonstration sind sie natürlich wie wild. Der Glatzkopf sagt: Diesmal kommen Sie nicht mit fünfzehn Tagen davon. Nehmen Sie ein Blatt Papier, schreiben Sie auf, wie der Brief mit dem Aufruf zu Ihnen gelangt ist. Wer hat ihn gebracht? Vielleicht Sacharow? Dabei sind unter dem Aufruf an die fünfzig Unterschriften. Ich hab gesagt, ich werde mich nicht selbst denunzieren. Kurz, sie haben mir drei Tage gegeben. Wenn ich nicht schreibe, wer mir den Brief gebracht hat, verhaften sie mich. Ja, Tomotschka, wir werden uns also vielleicht lange nicht sehen.«
    Der schwere, kräftige männliche Körper, von dem sie ganz angefüllt war, der nur ihr gehörte … heute werde ich schwanger, und dieses Kind bringe ich zur Welt … komme, was da wolle … keine Abtreibungen mehr … und wenn sie ihn einsperren, ziehe ich ihn auch allein groß … den Jungen …
    »Und jetzt, verstehst du, hat sich ein neuer Umstand ergeben.«
    Auf einen Arm gestützt, richtete er sich auf, wischte sich mit der Bettdecke ab, setzte sich und stellte die behaarten Beine auf den Fußboden.
    Tamara hörte kaum hin. Sie lauschte auf etwas anderes: Wie zwei mikroskopisch kleine Teilchen aufeinander zustrebten, langsam, sicher und zielstrebig. Sollte doch seine dicke Lidotschka noch ein Mädchen kriegen, sie würde einen Jungen bekommen und ihn allein großziehen … jetzt ganz bestimmt. Ohne Marlen zu fragen.
    Sie lag auf dem Rücken und streichelte ihren Bauch. Wie dumm von mir, wie dumm, ich habe so viel Zeit verloren. Der Junge würde schon zur Schule gehen, wenn ich mich damals gleich entschlossen hätte, phantasierte sich Tamara ein anderes Leben zurecht, das ihr nicht bestimmt war.
    »Ein hochinteressanter Umstand. Ich habe schon vor einer Weile gehört, dass die Schweine Juden für Geld rauslassen. Ich konnte es nicht glauben. Wie 1939 in Deutschland: Reiche konnten sich damals vom KZ freikaufen. Später ging das allerdings nicht mehr. Stell dir vor, genauso funktioniert das auch heute.«
    »Was sagst du da? Bei uns?«, staunte Tamara und vergaß augenblicklich ihren eingebildeten Embryo.
    »Ja, bei euch! Bei wem denn sonst?« Marlen runzelte die Stirn. »Stell dir vor, meine Mutter hatte neulich Besuch von einem Landsmann. Na ja, ein Mann aus ihrem Stetl, er ist Schneider, was sonst. Ein sehr guter Schneider. Er näht für irgendein hohes Tier. Einen großen Natschalnik, den Namen will ich lieber nicht nennen.« Er klopfte leise gegen die Wand. Dann beugte er sich zu Tamara und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
    »Du spinnst ja! Das glaube ich nie im Leben.«
    »Glaub mir ruhig! Es ist so, stell dir vor! Dieser Schneider näht für ihn seit vor dem Krieg, für ihn und seine ganze Familie. Er hat den Schneider sogar nach Moskau geholt, in seine Wohnung. Na ja, nicht in seine eigene, er hat ein paar Wohnungen zur Verfügung, für wichtige Leute. Und er ist in Ordnung, also, in gewissem Sinn …«
    »Der Schneider?«, fragte Tamara.
    »Wieso denn der Schneider! Der Natschalnik, Mister X, er ist auf seine Weise ein anständiger Mann. Nicht blutrünstig, nur scharf auf Geld. Das heißt, nicht auf Geld an sich. Er sammelt Bilder. Seriöse Gemälde, von berühmten Malern. Serow, Perow, na ja, eure Peredwishniki eben. Aus Deutschland hat er nach dem Krieg eine ganze Wagenladung solches Zeug mitgebracht,

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