Das gruene Zelt
fest unter Verschluss gehalten, und plötzlich war es aus ihr herausgebrochen, und sie hatte alles erzählt, ausgerechnet jemandem, den sie ihr Leben lang für eine überflüssige, fremde, zufällige Bekanntschaft gehalten hatte. So viele Jahre nicht ein Wort, weder zu ihrer Mutter – um sie nicht zu enttäuschen, noch zu Olga – weil sie versprochen hatte, zu schweigen –, noch zu ihrer besten Freundin und Lehrerin Vera Weinberg – damit das Geheimnis nicht in ein fremdes Leben einbrach, nicht die glückliche Existenz einer fremden Familie zerstörte. Und plötzlich, aus heiterem Himmel, erzählte sie alles Poluschka, der KGB-Gattin. Im Übrigen war das Ganze ja nicht mehr aktuell.
Eigentlich hatte Tamara das alles schon einmal jemandem gestanden – dem Priester, vor ihrer Taufe; der hatte sie geduldig und ohne jede Reaktion angehört und dann lächelnd gesagt:
»Das alles ist jetzt Vergangenheit. Mit der Taufe beginnt ein neues Leben, Sie werden unbefleckt sein wie ein Kind. Das ist gewissermaßen der Vorteil, wenn man sich als Erwachsener taufen lässt, ganz bewusst. Sie bekommen eine neue Reinheit geschenkt, hüten Sie sie.«
Die neue Reinheit war ziemlich schnell verblasst. Das vergangene Leben war nicht verschwunden, es warf einen langen Schatten in die Zukunft, und selbst der alte Hund Robik, den Marlen dagelassen hatte, lag bis zu seinem Tod auf demselben Läufer, wo er viele Jahre lang samstags auf sein Herrchen gewartet hatte. Der Hund hatte geschwiegen, Tamara hatte geschwiegen.
Doch gestern Abend war es aus ihr herausgebrochen, sie hatte alles erzählt. Wozu? Nein, nein, es war, wie es war. Würde alles noch einmal von vorn anfangen – sie würde genauso handeln. Ihre Mutter tat ihr leid. Raissa Iljinitschna trauerte. Nicht um den Korowin, nicht um den Borissow-Mussatow, sondern um die kleine, flüchtige Wrubel-Skizze, auf der nichts weiter zu sehen war als ein großer Kopf und ein Flügel, der gegen die Gesetze der Anatomie hochgereckt war. Obwohl – was weiß man schon von der Anatomie der Engel, wer hat sie studiert … Die Bilder hatten der Großmutter gehört, sie stammten aus dem Haus der Gnessins, Geschenke aus verschiedenen Jahren. Jelena Gnessina war ihre enge Freundin gewesen, seit dem Gymnasium. Die Großmutter hatte ihr Leben den Gnessins gewidmet, und in ihrem Haus gab es noch immer viele Spuren dieser Freundschaft: kleine Tassen, Postkarten, Federn, Broschüren mit Widmungen in winziger Schrift und schwungvoller Unterschrift. Aber die drei Bilder waren nicht mehr da. Weg. Nein, nein, es tat Tamara nicht leid um sie. Schlimm war etwas anderes – die fieberhafte, jahrelange Geistesverwirrung, die heißen Leidenschaften, von denen nichts geblieben war als das Gefühl, bestohlen worden zu sein. Nein, nein, nein – nicht darum ging es.
Es war ganz schrecklich gewesen damals: Marlen hatte seine Arbeit verloren, bekam eine Ablehnung nach der anderen, wurde immer wieder in die Lubjanka geholt, mit der Aussicht, eingesperrt zu werden, und eines Tages gestand er ihr: Seine Frau sei schwanger, sie stehe kurz vor der Geburt. Da er immer so herablassend von seiner Frau gesprochen hatte und herzlich nur von seinen Töchtern, hätte in dieser Ehe, wie Tamara sie sah, eigentlich kein neues Kind entstehen können. Er war doch nur ihr Mann, ihr Einziger. Und nun war seine Frau schwanger.
Er war dünn geworden und gelb im Gesicht, Tamara nahm ihn sogar mit in ihr Labor und ließ Bluttests machen. Doch sein Blut war in Ordnung, die Leber auch. Nur die Ausreisegenehmigung blieb aus. Die einstigen Hindernisse waren längst von selbst verschwunden. Seine arme behinderte Schwester war gestorben, danach auch seine Mutter, die von Israel nichts hatte hören wollen. Sie hasste dieses feindliche Land, das allen nur Kummer bringe. Das war ihr nicht auszureden gewesen. Nie hätte sie die Zustimmung zur Ausreise ihres Sohnes gegeben.
Am vorletzten Dezembersamstag war Marlen zu Tamara gekommen. Der Hund hatte sich mit Mühe bis zu ihr geschleppt. Robik, der einzige Zeuge ihrer Liebe, war inzwischen uralt. Vor ihm schämten sie sich nicht.
Auch vor Raissa Iljinitschna mussten sie sich nicht genieren – sie hatte Marlen in all den Jahren nie zu Gesicht bekommen. Wenn er klingelte, verkroch sie sich in ihrem Neun-Quadratmeter-Zimmer. Sie hatte sogar den Nachttopf der Großmutter wieder hervorgeholt und unter ihr Bett gestellt.
Je schlimmer die Umstände, desto heißer wurden ihre Umarmungen. Nun, Jahre
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