Das gruene Zelt
andere gingen von Hand zu Hand.
Auch Nabokovs Roman Die Gabe reichten sie sich gegenseitig weiter – und erschlossen sich nach und nach einen Autor, den es in keiner Bibliothek, in keinem Lehrbuch gab.
Olga verspürte den dringenden Wunsch, das Buch ihrem geliebten Dozenten zu geben. Sie fragte ihn vorsichtig nach Nabokov – er hob eine Braue. Was genau?, fragte er.
» Die Gabe «.
Auch der Dozent hatte den Autor gerade erst kennengelernt – ein Student, ein Kanadier russischer Abstammung, hatte ihm den ersten Nabokov mitgebracht.
»Ja, ja«, sagte der Dozent und nickte, »ein erstaunlicher Autor. So etwas hat es in russischer Sprache lange nicht gegeben.«
Aber er fragte nicht: Was haben Sie denn noch?
Die Einladung zur Enthauptung machte die Runde unter den jungen Philologen. Ein Lichtblick, eine Bresche im Eisernen Vorhang. Die Hände zitterten, das Herz stockte. Wie das alles einordnen? Das Buch veränderte ihr gesamtes Weltbild. Ein neuer Himmelskörper war in die Galaxis eingetreten, die Kräfteverhältnisse gerieten ins Wanken, die ganze Himmelsmechanik veränderte sich vor ihren Augen: Die halbe Literatur ging in Flammen auf und wurde zu Asche …
Dieser Roman war ein reiner Diamant. Und Ira Troizkaja brachte noch mehr von dieser Art mit.
Der Zufall wollte es, dass bei jenem Dozenten während einer Haussuchung just das Generalsexemplar von Nabokovs Gabe beschlagnahmt wurde, nachdem es durch eine ganze Kette von zuverlässigen Händen gegangen war. Das heißt, Ira wusste gar nicht, dass das wertvolle Buch in so würdige Hände gelangt war. Bei dem Dozenten wurden auch Exzerpte gefunden, die er beim Lesen angefertigt hatte. Er schrieb bereits an seinem Artikel Rückkehr in die Heimat . Brachte ihn aber nicht mehr zu Ende. Doch auch diese unvollendeten Notizen wurden beschlagnahmt.
Es kam zum Skandal, der Dozent und sein Koautor wurden eingesperrt – natürlich nicht wegen Nabokov, sondern wegen ihrer eigenen Bücher, die im Westen unter Pseudonymen erschienen waren. Eine Unterschriftensammlung begann, Köpfe rollten, die Studenten wurden durch die Mangel gedreht, Olga flog wegen ihrer Unterschrift unter den Protestbrief gegen die Verhaftung des Dozenten von der Uni. Ira Troizkaja rührte niemand an. Sie hatte nichts unterschrieben, und keiner aus Olgas Kreis hatte sie als Quelle der antisowjetischen Literatur angegeben.
Ira beichtete ihrem Vater nachträglich ihre aufklärerische Tätigkeit. Der Vater, der in diesem Leben vor kaum etwas Angst hatte, stöhnte nur. Später, nachdem alle, die es aus seiner Sicht verdient hatten, eingesperrt, rausgeworfen und exmatrikuliert waren und wieder Ruhe eingetreten war, besorgte er sich das verlorengegangene Buch erneut. Diesmal eine amerikanische Ausgabe. Der General schätzte Nabokov ebenso wie jener Dozent.
Die Bücher der eingesperrten Autoren hatte der wissbegierige General ebenfalls gelesen, er sagte zu seiner Tochter: Nicht übel, aber ein solches Aufsehen haben sie nicht verdient. Ira litt sehr unter dieser Geschichte, obwohl sie vollkommen unbefleckt daraus hervorgegangen war. Olga sah sie nicht wieder, und sie bedauerte deren Verschwinden. An der Uni waren jetzt alle mit Ira befreundet, obwohl sie keine Bücher mehr mitbrachte – das hatte der Vater ihr verboten.
Ira studierte zu Ende und bekam eine erstklassige Stelle zugewiesen: in der Auslandskommission des Schriftstellerverbands. Ein alter Kollege ihres Vaters betreute den Verband, er hatte das arrangiert.
1970 starb Igor Wladimirowitsch plötzlich an einem Herzinfarkt. Kurz vor seinem Tod hatte er das Gerücht gehört, Solshenizyn sei für den Nobelpreis nominiert, und war sehr verärgert.
»Was ist das denn für ein Komitee? Tolstoi hat ihn nicht gekriegt, aber Solshenizyn wollen sie ihn geben?«
Ira fiel nach dem Tod des Vaters in eine Depression: Ihr wurde von allem übel, auch von ihrer so erstklassigen Arbeit. Ihre Schwester Lena lebte in Stockholm. Ihr Diplomatengatte war Kulturattaché an der Botschaft der UdSSR in Schweden. Die Absicht des Nobelpreiskomitees konnte ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten bescheren.
In jenem Jahr widerfuhr Ira etwas Erstaunliches: Eine elegante Dame fischte sie auf der Straße aus der Menge heraus und lud sie zu einer Laufstegprobe ein. Die Dame war eine im ganzen Land berühmte Modeschöpferin. Ira fand das Angebot amüsant. Sie ging zu dem Termin und wurde sofort genommen. So hochgewachsene Mannequins gab es damals noch nicht, sie war die
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