Das gruene Zelt
postrevolutionären Generationen hätten in sehr früher Jugend eine Dosis Angst empfangen, und die sei so stark gewesen, dass andere Impulse nicht mehr wirkten – zu diesem Schluss war Viktor Juljewitsch gekommen. Darüber hatte er mit seinen Freunden und seinen ehemaligen Schülern diskutiert. Micha hatte die Idee in große Aufregung versetzt, auch Ilja hatte sie gefallen. Das Buch hätte er gern gelesen. Er hatte dem Lehrer vorgeschlagen, es in den Westen zu schicken. Aber Viktor Juljewitsch hatte es nie zu Ende geschrieben. Vielleicht hatten sie zu lange darüber geredet, und die Idee war verpufft. Und hing nun in der Luft und veränderte unsichtbar etwas im Bewusstsein derer, die über diese Dinge nachdachten …
Im Prinzip hatte der Lehrer in allem recht. Ilja schloss die Augen. Ja, ein genialer Verlierer. Und Micha ist ein unbegabter Dichter, ein Idealist, Sanja ein gescheiterter Musiker. Und ich bin nun ein Spitzel … Eine schöne Gesellschaft.
Im Übrigen mache ich nur meine Arbeit. Mir ist wichtig, dass das alles erhalten bleibt. Wenn niemand etwas weiß, dann ist es, als hätte das alles nie existiert. Mein Archiv hält diese uninspirierte, von schleichender Pest infizierte Zeit fest. Und die Angst? Sie war, ist und wird immer sein …
Da ist was dran, unbegreiflich ist nur, was mit Viktor Juljewitsch selbst passiert ist. Ich muss ihn mal danach fragen, warum er hier liegt, ganz allein, halb betrunken, umgeben von den besten Werken der russischen Literatur.
Vielleicht wird ja die Schönheit die Welt retten oder die Wahrheit oder ein anderer erhabener Quatsch, aber die Angst ist trotzdem stärker, die Angst wird alles zugrunde richten – sämtliche Keime der Schönheit, die Triebe des Schönen, Weisen, Ewigen. Nicht Pasternak wird bleiben, sondern Mandelstam, weil er mehr vom Schrecken der Zeit enthält. Pasternak dagegen wollte sich mit der Zeit aussöhnen, die Zeit positiv auslegen.
Ilja mochte nicht mehr still dasitzen und klopfte leise mit dem Finger auf die nackte Tischplatte. Der Schlafende zuckte zusammen und klappte den Mund zu.
»Ah, ich habe Sie erwartet, Ilja.«
Ilja zog die Flasche aus der Manteltasche und stellte sie auf den Tisch. Viktor Juljewitsch stand unsicher auf.
»Ja, ja«, sagte er geschäftig, »gleich.«
Er zog zwei Gläser aus einem Haufen Geschirr und lächelte schwach.
»Zu essen ist nichts im Haus.«
Ilja langte in die Tiefen seiner Tasche und förderte eine Zitrone zutage.
»Wenn Sie vielleicht Zucker haben …«
»Das ja.«
Sie schenkten ein, in die bauchigen Kognakgläser. Die Hand des Lehrers war schön – glatte, blasse lange Finger mit gleichmäßigen Nägeln. Das Glas hielt er zärtlich am Fuß.
»Na dann, mein lieber Freund! Sehen Sie, wo wir beide gelandet sind?« Viktor Juljewitsch lächelte. Links fehlten ihm zwei Zähne. Was hatte er, Ilja, ihn fragen wollen? Ihm sagen? Ach, nichts. Genau das hatte er gewollt: zusammensitzen, trinken, Mitgefühl füreinander empfinden und uneigennützige Liebe. Sie tranken schweigend. Und es ging Ilja besser.
Der Kaffeefleck
Irina Troizkaja, 183 Zentimeter Lebendgröße, Spitzname Bohnenstange, Hände und Füße wie ein Mann, erzählte niemandem, dass ihr Vater General war. Und schon gar nicht, wo. Sie kleidete sich wie alle. Obwohl im Wandschrank ihrer Generalswohnung in der Nähe der Metrostation Sokol alles hing, was ein Mädchen wünschen konnte.
Überhaupt hatte sie alles, wovon die anderen nur träumten, sogar mehr als das. Aber niemand wollte mit ihr befreundet sein. Wenn sie näher kam, verstummten alle. Nicht nur in der Mensa, selbst in der Raucherecke, obwohl sie von ihr Zigaretten schlauchten. Aber wortlos. Das heißt, nicht alle mieden sie, aber diejenigen, mit denen sie gern befreundet gewesen wäre: Olga, Richard, Ljalja, Alla und Woskoboinikow. Und was sie am meisten kränkte: Olga stammte selbst aus einer Generalsfamilie, Richards Vater war Minister in Lettland, der von Ljalja Botschafter in China. Warum behandelten sie Ira von oben herab und mit Verachtung? Schließlich konnte sie nicht jedem erzählen, ihr Vater sei zwar KGB-General, spiele aber in der obersten Liga – bei der Auslandsaufklärung, sein Leben lang.
Ihre ältere Schwester Lena stand kurz vorm Abschluss ihres Studiums am Institut für internationale Beziehungen, und dort sah es ganz anders aus: Die Kinder von Natschalniks wurden sehr geschätzt. Besonders die Mädchen. Sie heirateten alle gegen Ende des Studiums, natürlich
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