Das gruene Zelt
abzuschließen, aus dem zu viele überflüssige Unannehmlichkeiten erwachsen konnten.
Tamara stürzte sich ganz in ihre Wissenschaft und schrieb ihre Habilarbeit.
Marlen lebt mit seiner Familie in Rechowot, einem Wissenschaftsstädtchen bei Jerusalem. Es geht ihm gut.
Unbekannt ist nur, wer am Ende den Engel mit dem großen Kopf und dem blauen Flügel bekommen hat. Und den kleinen Korowin und den Borissow-Mussatow.
Das Haus mit dem Ritter
Als Ilja das Hotel verließ, war es bereits dunkel. Aber es regnete noch immer. Ein merkwürdiges Gefühl. Er hatte verloren – ganz kolossal. Aber auch unbeschreiblich gewonnen. Gab es das, dass man gleichzeitig verlor und gewann? Er ging die Gorkistraße hinauf. Es gab in der Tat keinen Ausweg. Obwohl – einen gab es: die Angaben über seinen Vater in der Geburtsurkunde. Sein Vater war Halbjude – Ilja könnte sich neue Papiere ausstellen lassen, sein jüdisches Viertel hervorholen und versuchen, die Ausreise zu beantragen. Aber dann würden sie ihn fertigmachen.
Er ging ins Restaurant »Aragwi«, dort gab es ein öffentliches Telefon. Er warf ein Zweikopekenstück ein und wählte.
»Katja! Hallo! Ist Viktor Juljewitsch zu Hause? In der Bolschewistski? Danke. Bei euch alles in Ordnung? Bis dann.«
Er rief die alte Nummer an. Ilja wusste, dass Viktor Juljewitsch seit dem Tod seiner Mutter oft in seiner alten Wohnung übernachtete. Eine Nachbarin ging ran. Ilja wartete lange, bis Viktor Juljewitsch ans Telefon kam. Ilja fragte, ob er jetzt gleich vorbeikommen könne.
Er ging ins Jelissejew-Feinkostgeschäft. Kaufte armenischen Kognak mit fünf Sternen – früher hatte der Lehrer ihnen guten georgischen Wein auf den Tisch gestellt, heute brachten sie ihm armenischen Kognak mit.
Auf der Puschkinskaja stieg Ilja in einen O-Bus und fuhr bis Tschistyje Prudy. Weiter ging er zu Fuß, zu dem vertrauten Haus mit dem Ritter überm Hauseingang. Der eiserne Mann unter dem pseudogotischen Vordach hatte hier die Revolution überlebt, die Umbenennung der Gasse von Gusjatnikow- in Bolschewistski und ahnte nicht, dass er eines Tages, ohne sich vom Fleck zu rühren, wieder an seine alte Adresse zurückkehren sollte.
Ilja stieg hinauf in den dritten Stock. Fünf Klingelknöpfe. Auf einem Schild stand »Schengeli«. Er klingelte. Sechs Schlüssellöcher in der hohen Tür, ziemlich weit oben – waren die Menschen früher größer gewesen als heute? Alle Schlösser bis auf eines waren kaputt.
Seit wie vielen Jahren kam er nun hierher? Seit 1956? Oder schon seit 1955? Seit seinem dreizehnten Lebensjahr. Und jetzt war er so alt, wie sein Lehrer damals gewesen war. Jedenfalls ungefähr. Merkwürdig, es machte lange niemand auf. Dann öffnete eine rundliche Nachbarin mit Schürze die Tür.
»Er ist zu Hause, wahrscheinlich hat er es nicht gehört.«
Der bronzene, asymmetrische halbrunde Türknopf – es war ein Jugendstilhaus –, wie oft hatte er den schon herumgedreht? Er trat ein. Auf der Liege lag der Lehrer, den Kopf unschön zurückgeworfen, mit offenem Mund und leise schnarchend. Ein Pulloverärmel war eingenäht. Wie mochte der Stumpf wohl aussehen?
Der Mann, der da schlief, war gealtert, seine Haut wirkte gelb. Das dunkelrote Tischtuch war halb zurückgeschlagen, auf dem entblößten fleckigen Holz ein dickes Heft, ein Stift und ein Glas voll Tee, der dunkel war wie Jod. Ja, auf dieser Plüschdecke konnte man in der Tat nicht schreiben.
Ilja zog den Mantel aus und setzte sich an den Tisch. Er konnte den alten Mann schließlich nicht wecken. Ja, er sieht aus wie ein Greis. Wie rasch er abgebaut hat. Dabei ist er nur fünfzehn Jahre älter als wir. Wir haben doch erst vor kurzem seinen Fünfundvierzigsten gefeiert. Ist das wirklich schon ein Jahr her? Der Ärmste. Er war so ein brillanter, eleganter Mann, eine Mischung aus Don Quijote und Cervantes. Wir Jungen sind ihm scharenweise nachgelaufen. Und die Mädchen auch. Alle hat er zum Denken angeregt, aber er selbst ist auf der Strecke geblieben. Ist alt geworden. Katja hat ihn verlassen. Oder er sie? Aus der Schule haben sie ihn rausgeschmissen. Dann hat er viele Jahre als Aufsicht im Museum der Sowjetarmee gearbeitet. Hat gesagt, er schreibe ein Buch. Und dort im Museum gebe es jede Menge wertvolles Material – Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg. Er erforsche eine neue Idee: Initiation durch Angst. Wo es keine Initiation des jungen Erwachsenen durch positive Impulse gebe, wirke die Initiation durch Angst.
Die
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