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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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es nicht gereicht, er war ein Handwerker, aber dafür verdiente er in seiner Kunstgießerei mit den großen, oft Tausende Rubel schweren Aufträgen mehr als die richtigen Künstler.
    Hin und wieder arbeitete er privat für Berühmtheiten, half bei einem Metalldekor oder einem Wandbild für irgendeinen sozialistischen Kulturpalast für Eisenbahner, Metallurgen oder sonstige Werktätige. Diese Arbeit erfüllte ihn mit Wut, machte ihn rasend, und er ersann immer giftigere Karikaturen auf das sozialistische Leben, das ja bald voll und ganz kommunistisch werden sollte.
    Immer mehr ergab er sich seiner Leidenschaft für das Zeichnen. Sein Beruf war die künstlerische Metallbearbeitung, das Zeichnen aber wurde seine Freude, seine Erholung, zum Ventil für seinen Ärger. Eines Tages wurde er eingeladen, an einer Ausstellung in einer Wohnung teilzunehmen, und sofort wurde er in diesem sehr engen Kreis von Untergrund-Künstlern bekannt.
    Bald fanden sich auch Liebhaber seiner Zeichnungen – den ersten Erfolg brachte ihm eine Kochwurst-Version der berühmten Arbeiter-und-Kolchosbäuerin-Skulptur. Durch seinen Freund Ilja gelangte diese Wurst sogar nach Westdeutschland und wurde in einem Wochenmagazin veröffentlicht, das erbittert antisowjetisch war, wie bekanntlich alles dort. Seitdem wurden ihm die einträglichen Aufträge nach und nach gleichgültig, und er verbrachte immer mehr Zeit mit Papier und Bleistift.
    Hier in Danilowy Gorki mochte Muratow keine Wurst mehr zeichnen. Es gab hier keine, und niemand vermisste sie. Doch das stille Zeichnen der stillen Natur, dem Nikolais gesamte Familie frönte, war für ihn ohne jeden Reiz. Also zeichnete er den ganzen Sommer über kaum.
    Es ging auf den September zu, die Abreise von Nikolais Familie in die Stadt stand bevor. In Kissenbezügen wurden getrocknete Pilze, im Ofen getrocknete Himbeeren und Walderdbeeren verstaut. Konfitüre hatten sie in diesem Jahr nicht gekocht – sie hatten keinen Zuckervorrat beschafft, und außerdem konnten sie sowieso nicht viele Gläser transportieren. Salzgurken, Kartoffeln und Pilzkonserven wurden im Keller eingelagert.
    Im Winter kam Nikolai mit seinem Sohn gewöhnlich mehrmals »zur Inspektion«, um das Haus zu kontrollieren und Vorräte nach Moskau zu holen. Die Anreise war, anders als der sommerliche Wasserweg, recht beschwerlich: Mit dem Zug, dann mit dem Bus und noch sechs Kilometer zu Fuß durch den Wald. Bis Danilowy Gorki kam auf den unbefestigten Wegen kein Auto durch, höchstens ein Traktor.
    Als die Abreise unmittelbar bevorstand, fragte Nikolai Boris:
    »Was ist, Boris Iwanowitsch, möchtest du hier überwintern?«
    Muratow hatte fast zwei Monate seelenruhig vor sich hin gelebt, aber auch vorausgedacht, darum erwiderte er sofort:
    »Weißt du, Nikolai Michailowitsch, ich habe Angst. Nicht vor der Miliz, nein, vor deinem Ofen habe ich Angst, vor deiner Hütte, damit muss man sich von Kindheit an auskennen, für mich ist es zu spät, das zu lernen.«
    »Tja, unser Vater war Dorfpriester, wir haben unsere ganze Kindheit in einer solchen Hütte verbracht. Es ist keine sehr schwierige Kunst, aber eben doch eine Kunst.«
    Nikolai kratzte sich den schütteren Bart, schwieg eine Weile und machte dann einen Vorschlag.
    »Die Sommergäste von Oma Njura sind abgereist, und sie hat im letzten Jahr ziemlich abgebaut. Vielleicht möchten Sie bei ihr wohnen, Boris, ich spreche mit ihr. Sie können ihr beim Überwintern helfen. Im Dezember komme ich vorbei. So Gott will, geht alles gut aus.«
    Das hatte sich in ihrem Umgang so eingebürgert – wenn sie sich mit Vornamen anredeten, siezten sie sich, gebrauchten sie Vor- und Vatersnamen, sagten sie du.
    Muratow erteilte Nikolai zwei Aufträge für Moskau. Er sollte ohne vorherigen Anruf zu Muratows Familie gehen, am Abend, und einen Brief übergeben, aber nicht verraten, woher er kam. Und noch eins: Er sollte sich mit Muratows Freund Ilja treffen, ihm einen Gruß ausrichten und nur ein Wort sagen: »Vorwärts!«, Ilja wisse Bescheid, was zu tun sei.
    Und bevor er wieder ins Dorf komme, solle er sich erneut mit Ilja treffen, Geld in Empfang nehmen, die Hälfte Muratows Familie bringen und ihm selbst die andere Hälfte. Wie viel es sein werde, wisse er nicht, vielleicht viel, vielleicht wenig, vielleicht auch gar nichts …
    Nikolai erledigte alles getreu gleich in der ersten Woche.
    Muratow zog zu Oma Njura. Sie hatte einen krummen Rücken, ein schiefes Gesicht, gekrümmte Finger und riesige,

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