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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Nachhinein noch lange: Diese dürre und eckige Person war für ihn eine Art Wasser des Lebens, als hätte sie ihn gründlich durchgewaschen, jeden einzelnen Knochen, jede einzelne Ader, und ihn anschließend wieder neu zusammengefügt – er erinnerte sich nicht, als Mann je so stark und unermüdlich gewesen zu sein. Am vierten Tag ihrer Romanze fuhr Anastassija mit dem Boot wieder davon, sie musste zum Dienst, sie war Ärztin, leitete sogar eine Station. Verabschiedet wurde sie von der ganzen Familie, am Fluss sang sie noch einmal mit ihrer klaren Stimme Am Fluss wusch Marussja sich die weißen Füßchen , dann winkte sie mit ihrem Taschentuch lange vom Boot, das sie zur großen Anlegestelle brachte, zum Liniendampfer.
    Eine gebildete Frau, aber was für eine Hure!, dachte Boris mit begeisterter Verwunderung. Solchen Frauen war er noch nie begegnet.
    Nikolai, als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte leise zu ihm:
    »Das liegt Nastja im Blut, ihre Ur- oder Ururgroßmutter, die hatte was mit Puschkin.«
    Zu Christi Verklärung fuhren sie am Abend in großer Besetzung nach Kaschino, in die Kirche. Erst mit dem Boot, dann mit dem Bus. Eine anstrengende Fahrt.
    Gebildet, aber gläubig – solchen Menschen war er auch noch nie begegnet.
    »Ihr lebt irgendwie ganz antisowjetisch«, bemerkte er erstaunt.
    »Nein, Boris, nur am sowjetischen Leben vorbei«, erwiderte Nikolai lachend.
    Boris sah sich überall um, betrachtete den Sonnenaufgang, das flache Wasser, wo Jungfische und Kaulquappen geschäftig und anscheinend zielstrebig hin und her huschten, das sandige Ufer mit den leeren glatten Muscheln, die bizarren Gräser, die ihm schon auf Ikonen aufgefallen waren und die er nun zum ersten Mal in der Natur sah; er staunte über alles und freute sich. Er ging mit den anderen in den Wald, sammelte Pilze, die im Juli noch rar waren, im August aber, als die sanften warmen Regen kamen, reichlich wuchsen.
    Boris tat alles eifrig und gern – Pilzesammeln, Angeln, er eignete sich sogar für die Bauernarbeit: Mühelos lernte er, mit der Axt umzugehen, und half Nikolai, den Schuppen zu reparieren und das Tor zu richten.
    Die Tage waren lang, die Abende mit dem ausgiebigen Teetrinken angenehm, die Nächte wie ein einziger Augenblick zwischen Einschlafen und Erwachen. Boris überkam eine ungewohnte Ruhe, die er früher, in seinem Moskauer Leben, nicht gekannt hatte.
    Seit anderthalb Monaten hatte er keinerlei Nachricht von zu Hause, suchte aber seltsamerweise auch keinen Kontakt zu seiner Frau. Oberflächlich betrachtet, um ihr keine Unannehmlichkeiten zu bescheren. Doch wenn er tiefer in sich hineinsah: Es war ruhiger ohne ihre Nervosität, ihre Launen, ihre Ängste und Sorgen.
    Eine Postkarte von ihm hatte eine Verwandte von Nikolai in Moskau in den Briefkasten geworfen: Alles in Ordnung, macht euch keine Sorgen. Ich liebe dich, habe Sehnsucht.
    Im August kam Nikolais Frau, die Tochter eines berühmten russischen Malers, mit ihrem ältesten Sohn Kolja. Die beiden Töchter wichen der Mutter nicht von der Seite, bedienten sie wie einen Ehrengast, Mamotschka hier, Mamotschka da, der Sohn aber, ein kräftiger Dreißigjähriger, folgte seinem Vater überallhin. Auch das Verhältnis zwischen Nikolai und seiner Frau war ungewöhnlich: zärtlich und respektvoll, fehlte nur, dass sie sich siezten. Sie sprachen miteinander leise, freundlich und zuvorkommend – kaum zu glauben, dass sie ihre Kinder selbst gezeugt hatten.
    Die erwachsenen Kinder waren nach wie vor Kinder, und es amüsierte Boris, wie die Kleinen das Verhalten der Eltern kopierten, ihren Eltern den schönsten Apfel brachten oder ein Büschel später Walderdbeeren. Boris, ein überzeugter Gegner des Kinderkriegens, begann heimlich an seiner eigenen Theorie zu zweifeln. Er war vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass man in diesem unmenschlichen und schamlosen Staat keine neuen Menschen für ein bettelarmes, schmutziges und sinnloses Leben zeugen durfte. Diese Bedingung hatte er auch Natascha bei ihrer Heirat gestellt.
    Verheiratet waren sie inzwischen seit acht Jahren, und Natascha sehnte sich nicht nach Kindern. Aber etwas anderes war eingetreten – entweder fehlte es ihr an Humor, oder die Denkweise ihres Mannes bedrückte sie mit der Zeit: Sie verzog das Gesicht bei seinen Zeichnungen, die immer böser und politischer wurden. Im Vergleich zu anderen ging es ihnen sehr gut. Er hatte die Stroganow-Schule für Kunsthandwerk absolviert, zu einem richtigen Künstler hatte

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