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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Feiertag? Wir haben doch weder den 7. November, den Tag der Oktoberrevolution, noch den 15. Dezember, den Tag der sowjetischen Verfassung?«, fragte Boris.
    »Wir«, sagten sie, »begehen den großen Feiertag der Einführung 11) .«
    11) Einführung Maria in den Tempel, orthodoxer Feiertag, 21. November bzw. 4. Dezember. Anm. d. Ü.
    Wessen Einführung wohin – das konnten sie nicht recht erklären. Aber sie hatten einhellig beschlossen, zu baden. Es war auch Zeit. Das letzte Mal hatten sie zu Maria Schutz und Fürbitte gebadet, also am 15. Oktober, da war gerade der erste Schnee gefallen.
    Eine vernünftige Banja hatte nur Nikolai Michailowitsch, die der alten Frauen waren längst verfallen, aber in Nikolais Garten lag meterhoch Schnee, den wegzuschaufeln einen ganzen Tag gedauert hätte. Sie beschlossen, wie beim letzten Mal in Njuras Hütte zu baden. Als junge Frauen waren sie direkt in den Ofen gekrochen und hatten sich dort eingeseift, aber das wagten sie jetzt nicht mehr, aus Angst, geröstet zu werden.
    Boris stellte keine überflüssigen Fragen. Er rollte den Waschzuber aus der Diele in die Hütte. Schleppte Wasser vom Brunnen heran. Hackte Holz und trug es herein – die ganze Diele voll. Am Morgen fingen sie an zu heizen und Wasser heiß zu machen. In der Hütte herrschte eine solche Hitze, dass die Fenster beschlugen, die Scheiben weinten sich rein.
    Sie bereiteten alles vor, dämpften sogar die Reisigbesen. Dann kamen sie ins Grübeln: Wohin mit dem Untermieter – draußen war eine Hundekälte, auf dem Hof fror selbst die Ziege, sie konnten ihn doch nicht vor die Tür jagen? Das Versteck auf dem Ofen taugte auch nicht, da würde er geröstet. Die Hütte hatte keine Trennwände, deshalb kam nur ein einziger Platz in Frage: hinterm Ofen. Und wenn er ihnen von dort heimlich zuschaute? Dann lachten sie über sich selbst: Was sollte er, der junge Kerl, da schon sehen wollen?
    Sie schickten Boris hinter den Ofen und zogen den Vorhang vor. Mit einem Buch saß er da, las aber nicht. Das Licht war schwach, die Lampe war nicht heller als eine Kerze, leuchtete nur etwas weiter. Also saß er da und lauschte den Badegesprächen der alten Frauen. Erst kicherten sie, dass sie ganz ausgetrocknet seien, der Schmutz hafte gar nicht mehr an ihnen. Dann meinte Sinaida, auch riechen würden sie nicht mehr; als sie jung waren, hätten sie nach Möse gerochen, jetzt röchen sie nur nach Staub und Schimmel. Jetzt ging es ans Waschen – sie ächzten, stöhnten, begossen sich mit Wasser, klapperten mit den Schüsseln. Plötzlich rutschte eine von ihnen aus, stürzte und schrie auf – Boris horchte, ob er vielleicht gebraucht würde. Er erhob sich zu seiner vollen, nicht geringen Größe und schaute über den Vorhang. Sinaida und Marfa halfen Njura auf und prusteten wie kleine Mädchen.
    Boris erstarrte. Er war an ihre runzligen Gesichter gewöhnt, an die dunklen, gekrümmten Hände, die ausgetretenen Füße, an alles, was aus ihren verwaschenen, uralten Kleidern herausschaute. Nun aber – gütiger Gott! – erblickte er ihre Körper. Er konnte den Blick nicht abwenden. Offene graue Haare fielen über die höckrige Wirbelsäule. Hände und Füße wirkten noch riesiger und hässlicher – die Finger, von der Bauernarbeit krumm wie die Wurzeln alter Bäume, hatten die Farbe der Erde angenommen, in der sie Jahrzehnte gebuddelt hatten. Doch die Körper waren weißhäutig, bläulich blass wie entrahmte Milch. Marfa hatte noch Brüste mit dunklen Nippeln wie Zitzen, bei den beiden anderen schienen sich die Brüste aufgelöst zu haben, nur schlaffe, durchscheinende Säckchen hingen auf den Bauch herunter. Sinaidas lange Beine, die einmal schön gewesen waren. Der Hintern war bei allen völlig platt, nur die Hautfalten deuteten an, wo sich einmal Gesäßbacken gerundet hatten.
    »Ich hab dir doch gesagt, Njura, ich darf nicht schwer heben, davon rutscht mir die Gebärmutter raus«, sagte Marfa tadelnd und wie mit heimlichem Stolz, und Boris sah zwischen ihren Beinen ein graues Säckchen baumeln, so groß wie ein Tabakbeutel. Er kniff die Augen zusammen, konnte sich aber vom Anblick dieser drei Grazien-Harpyien nicht losreißen.
    Marfa ging in die Hocke und schob mit einer geübten Bewegung das Säckchen in den haarlosen faltigen Hügel, hinein in das, was einmal ein weiblicher Körper gewesen war.
    Boris war kein Autodidakt, er hatte eine Kunstschule besucht, und außerdem stammte er aus der Familie eines Graveurs. Seit seiner

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