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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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hässliche Hände, die sie stets vor sich hielt, als trage sie eine Tasse oder eine Schüssel. Sie konnte die Hände nicht mehr strecken und benutzte sie wie zwei Scheren.
    Sie nahm Muratow nicht gegen Geld auf, sondern gegen Wodka. Die Alte trank sehr gern ein Schlückchen und erwies sich als fröhliche Rabaukin. Frühmorgens wachte sie auf, wälzte sich ächzend von ihrer Liege, bekreuzigte sich vor der heiligen Ecke, wo auf einem Bord eine große, ganz schwarze Ikone stand, und nahm den ersten Fingerhut voll zu sich. Mittags den zweiten, irgendwann am Tag aß sie Grütze oder Kartoffeln, die übrigen Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate, die der Mensch braucht, führte sie sich in Form von drei weiteren Fingerhüten Wodka zu. Eine Flasche reichte für eine Woche, das war seit langem erprobt. Morgens war Njura halbtot, am Abend aber war sie recht munter und erledigte ein paar Arbeiten im Haushalt, wobei sie allerdings immer unverständliches Zeug vor sich hin murmelte.
    Einige Jahre zuvor hatte der Weiler Strom und Radio bekommen. Den Strom ignorierte die Alte, sie machte nie Licht, sie ging schlafen, wenn es dunkel wurde, und stand auf, wenn der Tag anbrach. Aber das Radio war nach ihrem Geschmack. Als Muratow gelernt hatte, ihr Gemurmel zu verstehen, hörte er schonungslose und witzige Kommentare zu den Radiosendungen heraus, die sie morgens hörte. In jenem Jahr begann wieder einmal ein großangelegter Kampf gegen den Alkoholismus, eine Verordnung war erlassen und eine Kampagne eröffnet worden, und im Radio wurde die Trunksucht einmütig verurteilt.
    »Der Wodka ist ihnen nicht recht, aber wer hat schon Wodka, man kriegt ja nicht mal Selbstgebrannten. Wir wollen nichts von Eurem, also lasst uns das Unsere. Behaltet ihr eure BAM und lasst uns den Wodka.«
    Boris lernte die Lebendigkeit und Schärfe ihrer Gedanken immer mehr schätzen.
    »Hör mal, Untermieter, dieser Stalin von heute, wie heißt er doch, der ist ja noch schlimmer als der damals«, teilte sie Boris eine ihrer Überlegungen mit.
    »Wieso das?«
    »Der damals hat alles weggenommen, aber der hier putzt auch noch die Reste weg. Ach, von allem haben sie mich befreit, die Guten – erst vom Acker, dann von meinem Mann, von meinen Kindern, von der Kuh, von den Hühnern … Wenn sie mich noch vom Wodka befreien, dann bin ich vollkommen frei …«
    Njuras Mann war 1930 umgekommen, bei der Kollektivierung. Ihre drei Söhne, zu Kriegsbeginn gerade volljährig, waren einer nach dem anderen gefallen – der Älteste 1941, der Mittlere 1942, der Jüngste 1945.
    »Auch von Gott haben sie uns befreit.« Sie schaute in die dunkle Heiligenecke und murmelte vor sich hin. »Oder Er selbst hat uns aufgegeben, wer weiß …«
    Abends kamen manchmal die Nachbarinnen vorbei, Marfa und Sinaida, beide waren etwas jünger, aber ebenso verbittert. Sie tranken Muratows Tee, und Njura prahlte:
    »Ja, da hat Gott mir einen guten Untermieter geschickt, der stellt mir Wodka auf den Tisch und Tee …«
    Muratow dachte schon lange nicht mehr an Wurst – in dieser Gegend hatte sie, da längst vergessen und aus dem Alltag verschwunden, ihren symbolischen Wert eingebüßt. Die alten Frauen hier hatten kein Geld, um mit der Vorortbahn nach Moskau zu fahren und Wurst zu kaufen, und Apfelsinen hätten sie bis an ihr Lebensende nie gesehen, hätte nicht Nikolais Familie sie manchmal mit solchen exotischen Früchten bewirtet.
    Muratow zeichnete nun ausschließlich die Gelage der alten Frauen. Die Kargheit offenbarte großen Reichtum: krumme kleine Pellkartoffeln, eine matschige Fassgurke, Pilze – kleine Butterpilze, riesige Milchlinge, rostrote Reizker. Und die Königin der Tafel – eine trübe Flasche Selbstgebrannten, mit einem selbstgemachten Korken verschlossen. Oder Wodka, wenn sie Glück hatten. Mit Brot gab es im Winter Schwierigkeiten, in den Laden im großen Dorf Krushilino wurde oft keines geliefert, also buken die alten Frauen reihum.
    Der Papiervorrat, den Boris in Nikolais Haus entdeckt hatte, war rasch aufgebraucht. Doch zum Glück fand er zehn Rollen Tapete, die für das große Zimmer gedacht gewesen waren. Die Renovierung war von Jahr zu Jahr immer wieder verschoben worden und schließlich in Vergessenheit geraten, Boris aber kamen die Tapeten gerade recht: Er zeichnete erst auf der rauhen grauen Rückseite, dann auf der Vorderseite, auf kleingemustertem gelbem Grund, auf dem die Gesichter der alten Frauen lebendig wurden.
    Sie waren die letzten im Dorf. Die Übrigen

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