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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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waren gestorben, abgetragen wie ihre Kleider, klaglos wie die Kartoffeln, ihre einzige Nahrung, und frei wie die Wolken.
    Wenn sie getrunken hatten, wurden sie nicht schwermütig, sondern fröhlich. Sie sangen, schwelgten in Erinnerungen und lachten, wobei sie sich die schwarzen Hände vor die zahnlosen Münder hielten. Zu dritt hatten sie gerade mal zwei Zähne. Zahnweh linderten sie mit Salbei und Brennnesseln; das Zahnziehen hatte früher der Dorfschäfer Ljoscha besorgt, seit er tot war, fielen den verbliebenen Dorfbewohnern die Zähne von selbst aus, ohne fremde Hilfe.
    Die alten Frauen erzählten immer dieselben Geschichten, neue kamen selten hinzu, und Boris zeichnete die abendlichen Runden mit dünnem Bleistift, wobei die wundervollen Reden sich als Bänder aus den zahnlosen Mündern schlängelten. Und was waren das für Geschichten! Wie noch vor dem Krieg Natschalniks gekommen waren, um alle in den Kolchos zu treiben, die Leute hatten krakeelt und krakeelt und sich schließlich doch eingeschrieben, was blieb ihnen übrig. Aber Njuras ältester Sohn Nikola, der Frechdachs, trieb ein paar alte Eier auf – sie hatten ein Huhn, das seine Eier so versteckt legte, dass sie niemand fand, und wenn sie dann faulten und aufplatzten, war der Gestank einen Monat lang nicht rauszukriegen. Nikola also suchte eifrig, fand ein paar Eier und legte sie den Natschalniks ins Pferdegespann, und zwar so, dass sie sich mit ihren fetten Hintern draufsetzen mussten. Und tatsächlich – der erste Natschalnik, der einstieg, zerdrückte ein faules Ei. Ein leiser Knall – und ein Mordsgestank verbreitete sich über das ganze Dorf. Ach, war das ein Gelächter! Ein andermal bekam Sinaida Zahnschmerzen, und weil der Schäfer Ljoscha gerade wieder trank, ging sie nach Kaschino zum Zahnziehen. Beim Arzt setzte sie sich in den Behandlungsstuhl und machte sich vor Angst in die Hose … Von Kaschino, das sind rund achtzehn Werst, rannte sie im Galopp nach Hause. Als sie zu Hause angelangt war, tat auch der Zahn nicht mehr weh: Das Geschwür war unterwegs aufgeplatzt!
    Auch über ihre Männer redeten sie, einmal stritten sie sich sogar: Marfa erwähnte, dass Sinaida 1926 mit ihrem Mann fremdgegangen war. Sinaida ihrerseits konterte mit dem Schäfer Ljoschka, dass der die ganze Herde heimlich gemolken und die Milch gestohlen habe. Ljoschka war Marfas Bruder. Ein Wort gab das andere – beinahe hätten sie sich geprügelt. Njura rettete die Situation: Sie sang einen obszönen Vierzeiler zum Thema, und beide lachten. Dann kamen sie wieder auf die alten, aber noch nicht ganz vergessenen Geschichten – wie die »Kummunisten« das ganze Dorf ausgehungert und wie sie ihnen die Männer weggenommen hatten. Dann schwiegen sie eine Weile, tranken wieder einen Fingerhut voll. Lachten, tranken noch einmal. Aber solche traurigen Gespräche dauerten nie lange – sie freuten sich an jeder Kleinigkeit, lachten beim geringsten Anlass oder auch ganz ohne Anlass, spotteten, stichelten, tanzten und sangen, ein wenig für Boris Iwanowitsch, aber vor allem für sich selbst, voller Inbrunst.
    Noch ein Geschenk hatte Nikolais Haus für Boris: drei Schachteln Schülerbuntstifte. Seine Lohnarbeit in der Kunstgießerei hatte Boris nicht geschätzt, weil er sich als Graphiker betrachtete, und diese einfachen Buntstifte weckten die Liebe zur Farbe in ihm, er arbeitete abwechselnd mit blauer, grüner und schwarzer Schraffur, und es entstand eine ganz eigene vielschichtige Schönheit.
    Jetzt fühlte er sich wie ein Forscher, der eine untergehende Welt festhält. Die alten Frauen erzählten ihre wundersamen Geschichten, lachten, ihre Gesichter waren runzlig und fröhlich, und Boris Muratow saß am Tisch und strichelte seine wundervollen Bildchen. Bald gingen auch die Tapeten zur Neige.
    Schnee fiel, und die herbstliche Kargheit und Ödnis von Nass und Braun wurde von einem leuchtend weißen Winter abgelöst, und der blieb Boris als kräftiger Lichtfleck in Erinnerung, als sonnige Schneise im Grau.
    Solange es hell war, und das war Ende November nicht lange, streifte Boris in der Umgebung des Dorfes herum. Die Sümpfe waren gefroren, er hätte auch weiter gehen können, doch der Schnee lag so hoch, dass er bis über die Schäfte seiner Filzstiefel darin einsank.
    Als er eines Tages bis auf die Knochen durchgefroren nach Hause kam, liefen die alten Frauen auf dem Hof geschäftig hin und her – sie hatten beschlossen, aus Anlass des Feiertags zu baden.
    »Was für ein

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