Das gruene Zelt
Gefangener in der Haft und nach der Entlassung. Aber, verstehst du, erst muss das Okay unseres Klassikers eingeholt werden.«
»Was denn, wegen jeder einzelnen Geldübergabe muss er gefragt werden?«
»Nein, nicht unbedingt. Soweit ich weiß, gibt es regelmäßige Sendungen, Lebensmittelpakete zum Beispiel, die Liste dafür wird hier gemacht, die muss dort nicht bestätigt werden, aber in außergewöhnlichen Fällen wird er gefragt.«
»Und wer entscheidet hier?«
»Was weiß ich? Slawa, Andrej, Vitja – ist doch egal. Die Leute wechseln, aber die Arbeit läuft. Doch wenn es um eine individuelle Unterstützung geht, da wird er jedes Mal gefragt.«
»Du meinst, sie könnten es einem Kind verweigern?«
»Woher soll ich das wissen? Unser Klassiker wird Marxisten kaum helfen wollen. Er hasst den Kommunismus. Andererseits ist sie ja die Tochter politischer Häftlinge, stimmt’s?«
»Natürlich. Sie bräuchte Unterstützung. Das Mädchen tut mir leid. So abgerissen und hungrig, wie sie rumläuft, Fleisch kauft sie nur für den Hund, selber isst sie keins …«
Marina erschien gegen Abend. Mit einer Torte.
Ein Relikt ihrer häuslichen Erziehung, mutmaßte Olga.
Sie tranken noch einmal Tee, und Marina ging sich umziehen, weil sie zum Zug wollte. Als sie aus dem Bad kam, stieß Olga einen Laut der Verblüffung aus. Heller Mantel statt der kurzen Kinderjacke, Stiefel mit hohen Absätzen. Die Augen geschminkt wie für ein Besäufnis in einem Arbeiterwohnheim.
»Ihr habt mich nicht erkannt? Die werden mich auch nicht erkennen! Das habe ich schon zigmal durch. Ich laufe extra in diesen Lumpen rum, sie haben sich so daran gewöhnt, dass sie mich glatt übersehen, wenn ich was anderes anziehe! Kann ich die Jacke hier solange bei euch lassen?«
Sie stopfte die zusammengeknüllte Jacke und die abgelatschten geschlechtslosen Sandalen in den Rucksack und schob ihn unter die Garderobe.
»Ich bringe dich zum Bahnhof, Marina, ja?«, fragte Ilja.
»Nein, auf keinen Fall. Das wäre doch ein gefundenes Fressen für die!« Sie schwang den Kopf vor und zurück, ihr Haar fiel in der Mitte auseinander. Sie strich es mit gespreizten Fingern von der Stirn bis zum Scheitel zurück und steckte es mit einer Spange fest. Der Pony fiel ihr auf die Nase. Sie pustete dagegen und schüttelte den Kopf.
Ilja sah sie erstaunt an: Eine Rotznase, aber sie wusste schon Bescheid …
»Aber geh erst einmal mit Gera spazieren. Solange ich noch hier bin, ja?«
Auch das war klug und umsichtig. Was für ein Mädchen!
Ilja nahm die Leine von der Garderobe und befahl: »Spazieren!« Gera sah zu Marina, Marina bestätigte »Spazieren!«, und die Hündin ging brav mit der Vertrauensperson hinaus.
Marina wandte sich an Olga:
»Weißt du, ich war noch nie in Piter. Ein Bekannter hat mich eingeladen, schon lange, er sagt, es ist toll, komm her, hier sind jetzt weiße Nächte. Ich kenne die Leute da ein bisschen, ein paar von denen haben mich besucht. Sie haben mir eine Bleibe versprochen.«
Olga staunte, wie sich die ungelenke Halbwüchsige binnen weniger Minuten in eine Art vulgärer Bahnhofsschlampe verwandelt hatte, und war ein wenig erschrocken: Ging sie nicht zu weit mit ihrem Spiel? Marina durchschaute sie sofort.
»Olga, ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin etwas Drittes!« Sie lachte heiser. »Oder Viertes!«
Und im selben Ton instruierte sie Olga:
»Wenn die beiden zurück sind, gehe ich. Ich gehe immer zweimal mit Gera raus, morgens und spätabends. Morgens, das heißt gegen zwölf. Früher stehe ich nämlich nicht auf. Aber sie braucht unbedingt ordentlich Auslauf. Laikas sind keine Stubenhunde. Kälte ist gut für sie und Belastung. Vielleicht ziehe ich nächstes Jahr überhaupt raus aus der Stadt. Ich hab da ein Angebot …« Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht, als wartete sie auf Fragen, die sie nicht beantworten würde.
Aber Olga spürte das und stellte keine Fragen. Einerseits gefiel ihr diese Marina wegen ihrer Unabhängigkeit, andererseits ärgerte sie die Dreistigkeit dieser Unabhängigkeit.
Dann war das Mädchen weg, und alle gingen schlafen, Kostja in dem kleinen Zimmer neben der Küche, hinter verschlossener Tür, Gera legte sich auf die Decke im Flur, und Olga und Ilja in das Bett aus karelischer Birke mit den Extravaganzen am Kopfende. Dieses Bett diente Olgas zweiter Ehe ebenso treu wie ihrer ersten.
Es wurde eine unruhige Nacht: Erst bekam Olga Schnupfen und Husten, und als sie gegen Morgen erwachte, war
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