Das gruene Zelt
lange, ächzte, schnaufte und sagte schließlich nur:
»Ich wusste gar nicht, was für ein guter Zeichner Sie tatsächlich sind, Boris! Natürlich dürfen Sie nicht mehr hierbleiben. Ich weiß nicht, was Sie weiter vorhaben, aber diese Zeichnungen nehme ich mit nach Moskau. Ich werde sie bis zu Ihrer Rückkehr aufbewahren.« Er lächelte. »Wenn mir selbst nichts zustößt …«
»Sind sie wirklich gut? Ich hab mir gar keine Gedanken gemacht, ob das gut ist oder nicht. Behalten Sie sie nicht selbst, geben Sie sie Ilja. Vielleicht kann er sie irgendwo unterbringen«, bat Boris.
Er war äußerst zufrieden. Nikolai genoss Respekt unter den Malern und war bekannt für seine Strenge und dafür, dass er mit Lob geizte.
Am nächsten Tag trennten sie sich. Nikolai und sein Sohn fuhren nach Moskau, Boris nach Wologda.
Ganze vier Jahre entzog sich Boris Muratow der Verhaftung. Er hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass sie ihn am Ende sowieso irgendwann schnappen würden, und spielte sogar mit der Gefahr – erst lebte er im Gebiet Wologda, dann drei Monate in Twer bei der quirligen, stimmgewaltigen Anastassija, dann wurde er dreist und zog in die Nähe von Moskau, auf die Datscha eines entfernten Verwandten. Schließlich keimte in ihm eine Ahnung auf: Vielleicht suchte ihn ja gar niemand?
Sein Freund Ilja half ihm sehr – er hatte seine gesamte Sammlung aufbewahrt, bis auf die Bilder, die er erfolgreich ins Ausland verkauft hatte. Dort lief alles bestens. Ende 1976 gab es eine Ausstellung in Köln: Russische Akte . Alte Frauen, hässliche alte Frauen, nackt und vergnügt. Die sich offensichtlich recht wohl fühlten …
Genau zu dieser Zeit fanden sie ihn. Nachdem er vier Jahre erfolgreich untergetaucht war.
Boris Muratow bekam lediglich zwei Jahre, und zwar nach einem erstaunlichen Paragraphen – wegen Pornographie! Nicht wegen der antisowjetischen Wurst, nicht wegen des Mausoleums aus Würstchen, nicht einmal wegen des schrecklichen Hackfleisch-Porträts des Führers mit dem abgeschnittenen, auf eine Gabel gespießten Ohr. Nein, wegen Pornographie! Wenn man bedenkt, dass in der UdSSR noch nie jemand wegen Pornographie eingesperrt worden war, hielt er damit eine Art Rekord.
Nachdem er die zwei Jahre in einem Lager bei Archangelsk abgesessen hatte, emigrierte er mit seiner neuen Frau Raika, einer flinken, wohlproportionierten kleinen Jüdin, die irgendwie der quirligen Anastassija ähnelte, nach Europa, wo er bis vor kurzem noch gelebt hat.
Die schöne Natascha war ebenfalls nicht zu kurz gekommen: Während Boris auf der Flucht war, hatte sie einen ganz normalen Ingenieur gefunden und von ihm eine Tochter jenes Kustodijewschen Typs geboren, den Boris einmal so gemocht hatte. Maria Nikolajewna hütete die Enkelin und bereitete karge Mahlzeiten. Der jetzige Schwiegersohn war nicht schlecht, ein anständiger Mann, aber gegen Boris Iwanowitsch – kein Vergleich!
Die alten Frauen in Danilowy Gorki sind längst gestorben. Das ist der Lauf der Welt.
Die Überschwemmung
Das Mädchen hatte offenbar von der Telefonzelle vor ihrem Haus angerufen, denn zwei Minuten später stand es vor ihrer Tür.
Ilja war bis zur Verhaftung ihrer Eltern mehrmals bei der Familie gewesen, hatte das Mädchen aber nie bemerkt – vielleicht war es nicht zu Hause gewesen oder hatte geschlafen.
Olga sah das Mädchen auf jeden Fall zum ersten Mal. Solche Typen vergisst man nicht: kleines, dünnes Gesichtchen, die Augen um einiges zu groß, hell und kaum gewölbt, kleine Nase mit eingedrücktem Nasenrücken. Eine seltsame Erscheinung! Ilja hatte mal was von ihr erzählt – dass sie einen schrecklichen Charakter habe und niemand mit ihr fertigwerde. Etwas mehr wusste Olga über ihren Vater, Valentin Kulakow, der sich als wahren und konsequenten Marxisten bezeichnete, von allen anderen dagegen, die sich im Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung und im Institut für Marxismus-Leninismus verschanzt hatten, behauptete, sie seien Verfälscher oder Verräter.
Olga erinnerte sich nicht im Einzelnen, wo und warum er vor seiner Verhaftung rausgeflogen war. Kulakow hatte seine Feinde mit allen ihm zugänglichen Mitteln beschimpft, hatte Briefe ans ZK der Partei geschrieben, aber da niemand auf ihn hören wollte, hatte er seine Aufrufe zur Wahrheit auf einem staatseigenen Gerät vervielfältigt und unverschämte und verantwortungslose Briefe an ausländische kommunistische Parteien geschickt, an die Italiener oder die Österreicher oder
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