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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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besoffen. In der Nacht wache ich auf, als hätte jemand heißes Wasser auf mich gekippt. Draußen ist es hell, wegen der verfluchten weißen Nächte. Schrecklich, ich mag die Nacht eigentlich, aber das war weder Tag noch Nacht, nur eine endlose Dämmerung. Mein ganzer Körper hat gebrannt. Ich mache die Augen auf – die Wand ist voller kleiner Flecke, und die Flecke bewegen sich – auf mich zu. Ich schaue an mir runter – alles voller Wanzen. So eine Menge hab ich noch nie gesehen. Regimenter, Scharen! Duschen konnte ich nirgends, auf der Toilette am Ende des Flurs gab’s nur ein Waschbecken. Ich also mich angezogen, da seh ich – der eine Kerl ist weg, der andere pennt tief und fest. Ich hab seine Taschen umgedreht und alles Geld rausgenommen – für eine Fahrkarte müsste es reichen, sogar für zwei, hab ich gedacht. Du wunderst dich? Tja. So war das … Ich hab mich gefragt: Wer von den beiden hat mich wohl gestern gefickt, der hier oder der andere? Ich glaube, beide. Ich erinnere mich nicht. Ach, egal, spielt keine Rolle. Also, dann bin ich abgehauen. Gleich zur Vorortbahn, dann zum Moskauer Bahnhof. Fahrkarten gab’s keine, aber ich hab einer Wagenschaffnerin was gegeben, da hat sie mich mitgenommen. Ich hab die ganze Fahrt geschlafen, aber mich dauernd gekratzt, ich seh aus wie ein Schwein. Das hab ich erst jetzt gesehen – die Wanzen sind ins Mantelfutter gekrochen und dann rausgekommen und haben mich munter weiter gepiesackt. Aber keine Angst, ich hab sie alle ersäuft und mit heißem Wasser weggespült. Was hast du, Olga? Wieso heulst du? Bitte nicht heulen, sonst fang ich auch gleich an. Und nun das noch – Gera weg!«
    Die Tränen rannen die Wangen hinunter zum kleinen Kinn. Olga und Marina schmiegten sich aneinander und weinten – ihre Tränen waren prall und salzig wie Blutstropfen.
    »Schon gut, schon gut, das wird alles wieder«, flüsterte Olga. »Wir werden Gera finden, deine Eltern kommen wieder raus, alles wird gut.«
    Marina, die sich beinahe beruhigt hatte, heulte auf.
    »Was ist daran gut? Was? Wenn diese beiden Idioten zurückkommen, machen sie doch weiter. Sie sind krank, sie gehören ins Irrenhaus, nicht ins Gefängnis. Das einzig Gute an meinem Leben ist, dass sie jetzt weg sind. Ich bin mit zehn das erste Mal von zu Hause weggelaufen. Damals konnte ich nicht erklären, warum. Heute kann ich es. Sie brauchen mich nicht, ich war ihnen nur im Weg! Alle Kinder hatten ein ganz normales Leben, ich kannte nichts als politische Debatten. Marx, Lenin, Lenin, Marx! Ich hasse das. Jetzt ist alles schon schlimm genug. Aber wenn sie rauskommen, dann …«
    Der Kaffee war längst kalt.
    »Wärm ihn wieder auf«, bat Marina.
    »Ach, ich koche neuen …«
    »Spinnst du? Wärm ihn auf, das reicht … Hast du Zigaretten?«
    Olga rauchte nicht – das hatte sie sich auch in den Jahren mit Ilja nicht angewöhnt. Sie schaute im Zimmer nach, ob Ilja vielleicht Zigaretten dagelassen hatte. Sie tranken den aufgewärmten Kaffee und kochten noch einmal neuen. Olga hätte Marina gern bei sich behalten, aber gerade heute ging das nicht – ihre Mutter wollte heute in der Stadtwohnung übernachten, sie musste am nächsten Morgen zu einer Untersuchung in die Poliklinik des Literaturfonds.
    »Ich bringe dich nach Hause«, bot Olga an, und sie stiegen in den 15er O-Bus und fuhren zum Zwetnoi-Boulevard, wo die Familie Kulakow im Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses in einem Hof am ehemaligen Trubnaja-Platz wohnte.
    Die bösen Überraschungen waren noch nicht zu Ende. Im Treppenhaus brannte kein Licht – es war dunkel und stank fürchterlich. Der Holzfußboden war voller Pfützen. Die Haustür wurde von einer Feder zurückgezogen und fiel krachend zu.
    »Olga, halt mal die Tür auf, ich kann gar nichts sehen.«
    Jetzt sah Marina, dass ihre Wohnungstür aufgebrochen war, über dem Türrahmen klebte ein Papierstreifen.
    »Sie waren wieder hier …«
    Sie gingen hinein. Marina drückte auf den Lichtschalter – kein Strom. Die ganze Wohnung war überschwemmt. Offenkundig war das nicht erst heute, sondern bereits vor einigen Tagen passiert. Das Wasser hatte noch höher gestanden, es war zum Teil schon zurückgegangen. Aufgeschwemmte Bücher lagen darin wie Ertrunkene. Es roch auch irgendwie nach Tod.
    Marina lachte plötzlich lauthals los. Olga erschrak: War das Mädchen verrückt geworden?
    »Die vier unteren Regalbretter sind durchgeweicht! Sieh nur, Olga! Bis hier hat das Wasser gestanden! Das Sofa ist ganz

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