Das gruene Zelt
vergönnt gewesen war, Faschisten abzuschießen, für den Krieg.
»Der Krieg ist das schlimmste aller Übel, das sich Menschen je ausgedacht haben«, sagte der Lehrer und unterband alle Fragen, die den Jungen auf den Lippen brannten: Wo gekämpft? Welche Auszeichnungen? Wie viele Faschisten getötet?
Einmal erzählte er:
»Ich hatte das zweite Studienjahr beendet, als der Krieg begann. Alle jungen Männer gingen sofort ins Wehrkommando und wurden an die Front geschickt. Aus meiner Seminargruppe habe ich als Einziger überlebt. Alle anderen sind gefallen. Auch zwei Mädchen. Darum stimme ich mit beiden Händen gegen den Krieg.«
Er hob die Linke, der halbe rechte Arm zuckte, ließ sich aber nicht anheben.
Mittwochs war Literatur die letzte Stunde, und am Ende schlug Viktor Juljewitsch vor:
»Na, gehen wir noch ein Stück?«
Den ersten Spaziergang unternahmen sie im Oktober. Sechs Jungen gingen mit. Ilja wollte rasch nach Hause, Sanja hatte an diesem Tag geschwänzt, was er mit Erlaubnis seiner Großmutter häufig tat, so dass nur Micha ihr Trianon vertrat und seinen Freunden anschließend fast wortwörtlich all die erstaunlichen Geschichten weitererzählte, die er vom Lehrer auf dem Weg von der Schule bis zur Kriwokolenny-Gasse gehört hatte. Es ging um Puschkin. Viktor Juljewitsch erzählte von ihm so lebendig, als wären sie in dieselbe Klasse gegangen. Puschkin, so erfuhren sie, war ein Kartenspieler gewesen! Und wie verrückt hinter den Damen her! Ein richtiger Weiberheld! Obendrein ein großer Streithammel, er ließ niemandem etwas durchgehen, wurde schnell laut und war stets bereit zu einem Krach oder einem Duell.
»Ja«, sagte Viktor Juljewitsch traurig, »deshalb galt er als Bretteur .«
Niemand fragte, was das Fremdwort bedeutete, denn das war auch so klar: Streithammel.
Dann führte der Lehrer sie zu einem abgeblätterten Haus in der Kriwokolenny-Gasse, dort, wo sie nach der Kirowstraße eine Biegung macht, wies mit der linken Hand auf das Gebäude und sagte:
»So, und nun stellt euch Folgendes vor: Denkt euch den Asphalt weg, die Straße ist mit Kopfsteinen gepflastert, und von dort, aus der Mjasnizkaja, kommt eine Kutsche. Na ja, keine Kutsche, eher eine kleine Droschke. Puschkin war in Moskau nur zu Besuch, teils geschäftlich, er hatte viele Verwandte und Freunde in der Stadt, aber kein eigenes Zuhause, auch kein Gespann. Abgesehen von der Wohnung auf dem Arbat, die er nach der Hochzeit für kurze Zeit gemietet hatte, bevor er mit seiner Frau nach Petersburg zog. Er mochte Moskau nicht, er fand, hier gebe es »zu viele alte Tanten«. Also, stellt euch vor, hundert Jahre nach Puschkins Tod geht eine Dame hier vorbei – das war nach der Revolution –, und plötzlich biegt aus der Mjasnizkaja – trapp-trapp-trapp – eine Droschke um die Ecke, hält hier, und heraus springt Puschkin, läuft mit klackenden Stiefeln über das Kopfsteinpflaster und verschwindet in diesem Haus. Und im nächsten Augenblick ist alles verschwunden – das Kopfsteinpflaster, die Droschke und der Kutscher mitsamt den Pferden. Fortan hieß es, in dem Haus gebe es Gespenster. Nun, ob es so war oder nicht, werden wir nicht mehr herausfinden. Aber für ein Ereignis, das in eben diesem Haus – darin lebte damals der Dichter Wenewitinow – im Oktober 1826 stattfand, gibt es viele Augenzeugen: Im Salon dieses Hauses las Puschkin seine Tragödie Boris Godunow vor. An die vierzig Gäste waren dabei, und fast die Hälfte berichtete davon sofort in Briefen an Verwandte oder später in ihren Erinnerungen. Ihr habt doch Boris Godunow gelesen, nicht? Wer erzählt kurz, worum es darin geht?«
Micha meldete sich sonst immer, erinnerte sich aber plötzlich nicht an den Inhalt und wollte sich nicht blamieren.
Auch die anderen schwiegen. Schließlich sagte Igor Tschetwerikow unsicher:
»Er hat den falschen Zarensohn Dmitri ermordet.«
»Herzlichen Glückwunsch, Igor. Die Geschichtswissenschaft ist ein recht nebulöses Ding. Eigentlich gab es zwei Hypothesen. Die eine behauptet, Boris Godunow habe den Zarensohn Dmitri getötet. Die zweite, er habe den Zarensohn Dmitri nicht getötet und sei überhaupt ein anständiger Mensch gewesen. Ihre Version, er habe nicht den echten, sondern den falschen Zarensohn Dmitri ermordet, ändert das Geschichtsbild vollkommen. Ärgern Sie sich nicht, Geschichte ist keine Mathematik. Man kann sie kaum als exakte Wissenschaft bezeichnen. In gewissem Sinne ist die Literatur exakter. Die Sicht eines
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