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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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ihn – nicht wegen der Kiste Granaten, sondern wegen etwas anderem, Ernsterem. Tausendmal kehrte Viktor in Gedanken dorthin zurück: Was war richtig … wie hätte er handeln müssen? Hätte er, wie es sich für einen Kommandeur gehört, den Soldaten zurechtgewiesen, hätte der überlebt.
    Er entschied, dass er kein Kommandeur sein konnte. Nur einfacher Soldat. Er schrieb ein Gesuch, ihn in die kämpfende Truppe zu versetzen. Das wurde abgelehnt – bis zum Ende der Ausbildung blieben nur noch anderthalb Monate. Ein kleines Vergehen musste her. Etwas, wofür er nicht vor Gericht gestellt oder ins Strafbataillon geschickt, sondern lediglich als einfacher Soldat ohne Offiziersrang an die Front versetzt wurde.
    Er fand ein angemessenes Vergehen. Am Tag vor der Beförderung entfernte er sich eigenmächtig von der Truppe, betrank sich in der Stadt, stieg in ein Frauenwohnheim ein und verbrachte die Nacht im Gemeinschaftsraum mit einem Mädchen, das den betrunkenen Kursanten am frühen Morgen auf seine Bitte hin der Militärpatrouille übergab. Das war exakt das richtige Maß: Er saß zehn Tage im Arrest und wurde dann als einfacher Soldat zur kämpfenden Truppe geschickt. So musste er bis zum Ende des Krieges – der für ihn 1944 vorbei war, nach seiner Verwundung – keinen einzigen Befehl erteilen. Er musste nur welche ausführen. Die Aufgabe war immer die gleiche: lebend von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Dazu kam eine Reihe kleiner Sorgen: essen, trinken, ausschlafen, sich die Füße nicht wundlaufen, sich mal waschen können … Er bekam Befehle und schoss. Nein, nein, davon erzählte er nicht. Darüber schwieg er.
    »Und wo wurden Sie verwundet?«, fragten die Jungen.
    »In Polen, schon auf dem Vormarsch. Da wurde mir der Arm amputiert.«
    Was danach kam, behielt er für sich. Wie er mit der Linken schreiben lernte und dabei eine runde, stark geneigte, nicht unelegante Schrift entwickelte. Den rechten Armstumpf benutzte er zur Unterstützung, die Prothese aus rosa Zelluloid trug er nicht. Er lernte, sich geschickt einen Rucksack aufzuschnallen – erst zog er mit der Linken den rechten Stumpf durch den Riemen, dann schob er die Linke durch den linken Riemen. Aus dem Lazarett kehrte er zurück nach Moskau. Das Institut, an dem er vor dem Krieg studiert hatte, war inzwischen aufgelöst und zu Teilen in die philologische Fakultät eingegliedert worden. Dorthin kam er nun – in einem Uniformmantel, der noch nach Krieg roch, und seinem Rang nicht entsprechenden Offiziersstiefeln.
    Die Universität in der Mochowaja-Straße! Was war das für ein Glück – ganze drei Jahre konnte er sich wieder aufbauen, sein Blut reinigen mit Puschkin, Tolstoi, Herzen …
    1948, kurz vor dem Abschluss, wurde ihm eine Doktorandenstelle angeboten. Der Betreuer war großartig, ein Mediävist und großer Kenner der europäischen Literatur, auch das Thema war interessant, es hatte einen romano-germanischen Akzent: Puschkins Beziehung zu ebendieser europäischen Literatur. Viktor Juljewitsch schwankte – er wollte auch gern Kinder unterrichten, er glaubte jetzt zu wissen, was er ihnen beibringen musste. Und hatte die Qual der Wahl.
    Wo blieb die Stimme, die in entscheidenden Augenblicken den richtigen Rat gibt? Doch die Stimme erübrigte sich – der potentielle Doktorvater bekam einen Rüffel wegen Katzbuckelei vor dem Westen und Kosmopolitismus und landete einige Zeit später sogar im Gefängnis.
    Aus der Promotion wurde nichts. Viktor wurde an die Mittelschule des Dorfes Kalinowo im Gebiet Wologda geschickt, um russische Sprache und Literatur zu unterrichten.
    Sein Wohnraum lag im Schulgebäude. Ein Zimmer und eine Diele, von der aus der Ofen beheizt wurde. Brennholz bekam er zugeteilt. Im Dorfladen gab es Krabben aus dem Fernen Osten und Zuckerbonbons, scheußlichen Wein und Wodka. Brot wurde zweimal in der Woche geliefert, vom frühen Morgen an bildeten sich Schlangen, doch der Laden öffnete erst um neun, wenn die erste Unterrichtsstunde zu Ende ging. Die Mütter seiner Schüler brachten ihm, wie es im Dorf seit Urzeiten Brauch war, Eier, Quark oder selbstgebackene Pasteten von erstaunlicher Beschaffenheit: warm schmeckten sie wunderbar, kalt waren sie völlig ungenießbar. Von alters her war die Bezahlung von Priestern, Ärzten und Lehrern in Naturalien üblich. Viktor teilte die Gaben mit der Putzfrau Marfuscha, einer menschenscheuen, etwas wunderlichen Witwe, trank aber stets allein. Nicht viel und nicht wenig – jeden Abend

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