Das gruene Zelt
großen Schriftstellers wird oft zur historischen Wahrheit. Militärhistoriker haben bei Tolstoi zahlreiche Fehler in der Beschreibung der Schlacht von Borodino gefunden, dennoch sieht sie die ganze Welt heute genau so, wie Tolstoi sie in Krieg und Frieden beschreibt. Auch Puschkin stand nicht auf dem Hinterhof des Palastes von Maria Nagaja, der Mutter des minderjährigen Zarensohns Dmitri, als er ermordet – oder nicht ermordet – wurde. Dasselbe gilt für die Geschichte mit Mozart. Die Kleinen Tragödien habt ihr doch hoffentlich gelesen?«
»Ja, natürlich. Genie und Bosheit sind unvereinbar«, platzte Micha heraus.
»Ja, das denke ich auch. Von Salieri ist nicht genau bekannt, ob er Mozart vergiftet hat. Das ist nur eine historische Hypothese. Puschkins Werk aber, versteht ihr, ist eine Tatsache. Eine bedeutende Tatsache der russischen Literatur. Historiker mögen Beweise dafür finden, dass Salieri Mozart nicht vergiftet hat, trotzdem werden sie nicht gegen die Kleinen Tragödien ankommen. Puschkin hat einen großen Gedanken ausgedrückt: Genie und Bosheit sind in einem Menschen unvereinbar.«
Es dämmerte schon, Viktor Juljewitsch verabschiedete sich von den Jungen, und sie gingen nach Hause, in verschiedene Ecken ihres Stadtviertels.
Dieser erste Spaziergang zu literarischen Orten war der Ursprung des Zirkels, der sich am Ende des Jahres den Namen »Ljurssy« gab – Liebhaber der russischen Literatur.
Nachdem Ilja gehört hatte, wie spannend es beim ersten Mal gewesen war, versäumte er keinen weiteren dieser »Ausflüge in die Natur« – so nannte Viktor Juljewitsch ihre literarischen Mittwochswanderungen. Ilja verfasste die Berichte über die Zusammenkünfte des Zirkels, er war dessen Sekretär, und zwar ein sehr verantwortungsbewusster. Die Protokolle der Ljurssy bewahrte er zusammen mit den Fotos im Bücherschrank in seiner Kammer auf.
Die Ljurssy, die Mitglieder des Zirkels, erfuhren, je vertrauter sie mit der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts wurden, nach und nach auch einiges über die Fronterlebnisse ihres Lehrers.
Viktor Juljewitsch erzählte ihnen, wobei seine Nase und seine Wangen zuckten – Folgen einer Kopfverletzung, wie sie nun wussten –, wie er zusammen mit seinen Kommilitonen am Tag nach Kriegsausbruch ins Wehrkommando gegangen war.
Er wurde an eine Artillerieschule geschickt, nach Tula. Die Jungen interessierten sich für Einzelheiten: Schlachten, Rückzug, Angriff, Verwundung … Und was für Geschütze? Und was für Granaten? Und was für welche hatten die Deutschen?
Der Lehrer antwortete einsilbig. Die Erinnerungen waren für ihn zu bedrückend …
Die Ausbildung in der Tulaer Schule war im Eiltempo verlaufen, aber die Deutschen beeilten sich mit ihrem Vormarsch noch mehr. Ende Oktober erreichten sie Tula. Die Offiziersschüler wurden zur Verteidigung der Stadt eingesetzt, jeder bekam einen Zug Volkswehrmänner zugeteilt und musste mit ihnen die Feuernester bedienen. Das hätte etwas von einem Erwachsenen-Kriegsspiel gehabt, wären nicht binnen zwölf Stunden alle vom gegnerischen Feuer niedergemäht worden. Viktors Rettung war seine Wohlerzogenheit, die in kritischen Situationen normalerweise wenig hilfreich ist. Er befahl einem Soldaten, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte, eine Kiste mit Granaten zu holen. Der schon ältere, dickliche Volkswehrmann beschimpfte den Kommandeur: »Ich soll mich von dir rumkommandieren lassen? Ich bin fünfzig, und du bist gerade mal achtzehn. Schlepp die Kisten gefälligst selber.«
Der Offiziersschüler, der übrigens schon neunzehn war, machte sich wortlos auf den Weg. Hundert Meter ohne Gepäck hin, hundert zurück, mit einer pudschweren Kiste. Das Feuernest erreichte der keuchende Kommandeur nicht mehr – ein riesiger Granattrichter rauchte an der Stelle, wo das Geschütz gestanden hatte. Niemand war mehr am Leben.
Es gab auch niemanden zu begraben – es war ein Volltreffer gewesen. Der Offiziersschüler saß eine Weile auf der Kiste, dachte an nichts und fühlte sich wie verbrannte Erde, wie zerfetztes glühendes Metall, wie kochendes Blut und verbrannte Kleidung … Dann ließ er die nun nutzlose Kiste stehen und ging fort, ohne das Pfeifen und die Detonationen um sich herum wahrzunehmen.
Als die Belagerung von Tula vorbei war, wurde die Schule nach Tomsk verlegt, jedenfalls diejenigen, die noch am Leben waren. Noch lange träumte Viktor von den toten Soldaten, und der dickliche Volkswehrmann beschimpfte
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