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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Augen hinterm Horizont auf.
    In Mittelasien war Olga noch nie gewesen, sie hatte diesen unbekannten Teil der Welt schon lange sehen wollen. Ilja liebte diese Region, eigentlich hatten sie einmal zusammen hinfahren wollen, aber das hatte bisher nicht geklappt. Weiter als bis ins Baltikum waren sie nie gekommen.
    Doch leider sah sie so gut wie nichts von der Stadt – sie verließen Taschkent am Abend des nächsten Tages, überstürzt und mit einem Skandal.
    Am Morgen des ersten Tages wurden sie in ein barackenartiges Regierungsgebäude aus der Stalinzeit gebracht und in einen großen Saal mit einer langen, orientalisch gedeckten Tafel geführt. Daran saßen lauter Männer mittleren Alters in gleichartigen Anzügen und mit gleichartigen Krawatten – die Orientalen unter ihnen mit Tjubetejka, der traditionellen Kopfbedeckung, die Nichtorientalen ohne. Es war ein warmer, fast heißer Februar, und im Raum roch es stark nach abgestandenem Schweiß. Es war ein Empfang auf höchster Ebene, mit Parteiobrigkeit und Stadtoberhäuptern.
    Offenbar hatte es ein Missverständnis gegeben – die örtlichen Natschalniks glaubten, sie empfingen eine Regierungsdelegation eines befreundeten Landes.
    Chile, Peru, Kolumbien – das war für die Parteifunktionäre egal. Sie taten ihre Arbeit. Und die bestand darin, Reden zu halten.
    Gleich die erste Rede brachte Olga schier zur Verzweiflung: Sie war unübersetzbar. Olga beugte sich zu Pablo und teilte ihm das mit. Er nickte und bat sie, ihm russische Gedichte vorzutragen – er mochte den Klang der russischen Sprache und prägte sich alles schnell ein.
    »Gut, dann rezitiere ich dir Eugen Onegin , einen Versroman von Puschkin.«
    Sie begann mit dem Lyrikvortrag in sein Ohr, streng synchron mit den Auftritten der Redner.
    Beim vierten Kapitel wurde Pablo müde. Der Professor war einer Ohnmacht nahe.
    »Schön, das reicht, diesem Unfug muss ein Ende gemacht werden. José, ich flehe dich an, spiel ein bisschen mit, wenigstens ein einziges Mal!«, bat Pablo den Professor.
    Als der nächste, aber längst nicht letzte Redner fertig war und alle klatschten, erhob er sich von seinem Ehrenplatz und zog seinen leicht widerstrebenden Kollegen mit und Olga, die sich allerdings nicht sträubte, sondern selbst munter loshüpfte. Er stellte sich neben das mit rotem Plüsch dekorierte Rednerpult und sagte mit großer Stentorstimme:
    »In unserer Heimat gibt es eine Sitte – wir bedanken uns bei Freunden mit einem Lied. Deshalb singe ich Ihnen jetzt unser Lieblingslied vor, das Kolumbus vor fünfhundert Jahren aus Spanien nach Amerika gebracht hat.«
    Und er legte los. Es war La Macarena , ein Schlager, der noch nicht bis Moskau vorgedrungen war, geschweige denn bis Taschkent. Pablo hüpfte herum, schwenkte die Arme, zog José an sich, der sich diesmal, erschöpft von der selbstauferlegten Rolle des älteren klugen Freundes und dem ständigen Spott des Schriftstellers, ganz dem Sänger unterordnete.
    Der Refrain – Leg deine Hand hierher, Macarena! – wurde an die zehnmal wiederholt, und Pablo legte Josés Hand phantasiereich auf verschiedene Stellen seines Körpers, wobei er sich immer mehr dem Zentrum der Manneskraft näherte.
    Am Ende seines Auftritts hob Pablo die geballte Faust, eine veraltete, in diesem Teil der Welt überhaupt gänzlich unbekannte Geste, und sagte zu Olga:
    »Und jetzt übersetz das: Es lebe die Lehre von Marx-Engels-Lenin-Stalin! Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
    Er klatschte sich selbst Beifall, und die völlig verwirrten Orientalen schlossen sich ihm an. Neben Olga stand der auf höchster Ebene für diese Veranstaltung zuständige Mitarbeiter, so bleich, wie ein von der Sonne Asiens gebräunter Mensch nur sein kann, und flüsterte:
    »Olga Afanassjewna! Was ist hier los? Was hat er vor? Wir tragen doch die Verantwortung!«
    »Olga, sag ihm, dass wir noch heute abfliegen, sie sollen die Tickets umtauschen. Sag ihm, er kann uns mal, sag ihm, wir haben morgen ein Treffen auf allerhöchster Ebene!« Der kolumbianische Schriftsteller blies die fleischigen Wangen auf, so dass sein buschiger Schnauzbart in Bewegung geriet, und rollte die Augen zur Decke. »Sag ihm, was du willst!«
    »Aber du wolltest doch unbedingt Mittelasien sehen!«
    »Ich hab genug gesehen, mir reicht’s! Ich scheiß drauf!«
    »Für heute sind in Moskau keine Hotelzimmer reserviert!«, Olga führte ein vernünftiges Argument gegen eine sofortige Abreise ins Feld, doch davon wollte Pablo nichts

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