Das gruene Zelt
rechtzeitig gestoppt hat. Übrigens, wer weiß, vielleicht sitzt dein lieber Pablo gerade da und schreibt auch einen Bericht, wie er hier empfangen wurde, wer was gesagt hat. Alle leben nämlich nach bestimmten Regeln, und die wichtigste Regel lautet: Halte dich an die Regeln.«
Er meint das alles ganz aufrichtig, darauf würde ich meinen Kopf verwetten, dachte Olga. Der Ärmste, er sollte mit Grünzeug handeln oder mit Teppichen, und wo ist er stattdessen gelandet? Sie beobachtete sein gerötetes Gesicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl es hier, auf der schneebedeckten Bank, keineswegs heiß war.
»Ich will doch nichts Schlimmes von dir, nur einen Bericht. Ihr wart da und da, habt das und das gesehen, das und das gesagt. Und dieser José, das ist auch so ein Früchtchen. Die Familie seines Bruders lebt in Russland. Sein Bruder ist im spanischen Bürgerkrieg gefallen, aber seine Neffen wurden rausgebracht, er hat sich in Moskau mit ihnen getroffen. Das hast du nicht gewusst? Ich sag doch nicht, du sollst was schreiben, was du nicht gesehen hast. Vor der Abreise hat ein Mann ihn im Hotel besucht. Den hast du nicht gesehen? Sein Neffe. José hat ihm Geld gegeben und Sachen von sich. Das hast du nicht gesehen? Ich sag ja gar nicht, dass du das aufschreiben sollst …«
Aha, sie wussten also alles. José hatte ihr nicht verheimlicht, dass seine Neffen in Russland lebten. Einen davon hatte sie auf seine Bitte hin angerufen. Überhaupt hatte Pablo die ganze Reise nur arrangiert, weil er seinen spanischen Freund mit nach Russland nehmen wollte, damit der sich mit seinen Angehörigen treffen konnte.
Karik gab ihr mit all dem deutlich zu verstehen, dass ihm klar war, dass sie Bescheid wusste, er jedoch nicht von ihr verlangte, ihr Wissen in dem Bericht zu erwähnen.
»Gehen wir. Du schreibst eine Seite über das, was war. Was du für nötig hältst. Wenn du nicht mehr für mich arbeiten willst, biete ich dir nichts mehr an. Wenn doch, werde ich an dich denken. Aber den Bericht musst du schreiben.«
Sie gingen den leeren Flur entlang zu Kariks Büro. Alle anderen Mitarbeiter waren schon gegangen. Niemand sah Olga. Und niemand erfuhr je davon. Vor allem llja durfte nichts davon erfahren.
Ein gutes Los
Ljudmila hatte sich mit dreißig mit dem Schicksal der alten Jungfer abgefunden und sah in diesem Status viele Vorzüge. Ihre verheirateten Freundinnen, die Kinder bekommen hatten, geschieden waren oder ein freudloses Hausfrauendasein fristeten, weckten in ihr keinerlei Neid. Die Jahre, da sie träge erst auf einen Prinzen gewartet hatte, dann auf wenigstens irgendeine Liebe und schließlich einfach auf einen anständigen Mann, waren von einem gleichförmigen, ein wenig langweiligen, dafür vollkommen ruhigen Leben abgelöst worden.
Ilja kam nach und nach in ihr Leben. Mit der Zeit erkannte sie seine lange Gestalt und den Lockenkopf unter den mehreren Dutzend Stammlesern der Bibliothek. Aus den Blicken wurde ein leichtes Nicken. Eines Tages stießen sie kurz vor der Schließung der Bibliothek an der Garderobe zusammen und gingen – unbeabsichtigt – zusammen hinaus. Sie liefen in Richtung Metro und kamen aus Höflichkeit ins Gespräch. Sie nannten einander ihre Namen: Ljudmila, Ilja.
Nach einem halben Jahr brachte Ilja Ljudmila nach Hause – sie hatte fünf ziemlich dicke Bücher für ihren Vater bei sich. Ihr Vater war Wissenschaftler, Akademiemitglied, allerdings an der Timirjasew-Akademie für Agrarwissenschaften, die Ilja nicht als richtige Akademie betrachtete. Ljudmila wohnte in der Nähe der Akademie, dorthin brauchte der Bus von der Metrostation Nowoslobodskaja fast eine Stunde. Die Familie wohnte nicht in einem normalen Mietshaus, sondern in einem großen alten Sommerhaus, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts für die Landwirtschaftsprofessoren gebaut worden war.
Es war später Abend, die Busse hatten sich schon zur Nacht im Depot versammelt, und Ljudmila bot Ilja an, bei ihnen zu übernachten. Ihr Vater, noch der bäuerlichen Gewohnheit treu, kurz nach Sonnenuntergang ins Bett zu gehen und im Morgengrauen aufzustehen, schlief längst. Die Kinderfrau Klawa, die Ljudmila großgezogen und ihr die früh verstorbene Mutter ersetzt hatte, war an diesem Tag zu ihrer Schwester gefahren. Wäre Klawa im Haus gewesen, hätte sich die Geschichte womöglich anders entwickelt.
Nach einem einfachen Abendessen, das im Esszimmer serviert wurde – Samowartisch, Anrichte mit farbigem Glas, Regale und
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