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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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nichts Gutes.
    In dem Jahr, in dem Iljuscha eingeschult werden sollte, lebte sein Vater schon nicht mehr in Timirjasewka. Er war nach und nach – genauso, wie er in die Ehe hineingeschlittert war – wieder aus ihr verschwunden.
    Im selben Jahr starb Ljudmilas Vater, der Professor, und ein anderes Akademiemitglied wollte in das Haus des Verstorbenen einziehen. Nach kurzem Kampf – Ljudmila leitete zwar ein Laboratorium, aber ein Haus stand ihr nicht zu – bekam sie als Ersatz eine Dreizimmerwohnung in der Nähe zugewiesen. Beim Umzug half Ilja viel, schnürte Bücher zusammen, packte Geschirrkisten und lud sie in den Umzugswagen.
    Doch in der neuen Wohnung hielt er sich keinen einzigen Tag auf. Er nahm den Koffer mit seiner Büchersammlung mit, um ihn in die Wohnung seiner neuen Frau zu bringen, von deren Existenz Ljudmila vage etwas ahnte.
    Ilja ging hinaus in den Flur und küsste seinen Sohn auf den Kopf.
    »Benimm dich anständig, mach Mama keinen Kummer«, sagte er zum Abschied.
    »Mach Mama keinen Kummer«, antwortete Iljuscha.
    Wie so oft zuckte Ilja zusammen – dieses klägliche Wiederholen fremder Worte, ihr schwaches Echo, klang allzu häufig höhnisch.
    Die schwerfällige Ljudmila stand mit vom Umzug staubgrauem Haar in der Tür, und Iljuscha, sehr groß für sein Alter, schmiegte sich an seine Mutter.
    »Wenn du das nächste Mal kommst, kannst du dann die Regale aufhängen?«, fragte Ljudmila.
    »Aufhängen, aufhängen«, wiederholte der Sohn.
    Mit dem Bus bis zur Nowoslobodskaja, von dort zum Rigaer Bahnhof, mit der Vorortbahn bis Nachabino, dann mit dem brechend vollen Bus bis zur Datscha, und dort – Freude, Welpenjaulen, Schneeballschlachten, Schlittenfahrten, der plappernde Kostja … Olga – das gelbrosa Zwiebelchen mit dem versteckten Lachen in den Mundwinkeln, in den kindlichen Grübchen ihrer Wangen …Und nachts die klappernde Schreibmaschine, die Kammer mit der Rotlichtlampe und den schwarzen Fotoschalen, und Olgas Lachen, Kitzeln, Hitze und Liebe …
    Seinen Sohn besuchte Ilja selten. Mit Büchern und Baukästen. Und jedes Mal war es das Gleiche, nur noch schlimmer: die schweigsame dicke Ljudmila, die vertrocknete, bösartige Kinderfrau Klawa und Iljuscha, der hochaufgeschossene Lockenkopf, dessen Körper aber schmal und schwächlich war, wie eine Pflanze, die in großer Enge wächst. Traurig wiederholte er das Ende fremder Sätze. Sein liebstes Spielzeug war das Tonbandgerät, er hörte sich Gedichte an, und sein Gedächtnis nahm die Zeilen mühelos auf. Was davon er verstand, wusste niemand. Aber wenn er darum gebeten wurde, konnte er stundenlang Verse rezitieren, wobei er den Tonfall der Aufnahme exakt kopierte. Lesen konnte er noch immer nicht. Dafür war er sehr schnell im Kopfrechnen. Er hörte gern Musik und mochte Tiersendungen. Vor der eigenen Katze hatte er Angst. Auch vor Hunden, die er auf der Straße sah, wenn die Kinderfrau mit ihm spazieren ging.
    Ilja und Ljudmila ließen sich scheiden. Bald danach starb die Kinderfrau, und ein halbes Jahr später, was zwei Besuchen Iljas bei seinem Sohn entsprach, bat Ljudmila ihn, die Ausreise des Sohnes nach Israel zu erlauben. Zu dieser Zeit redete Iljas gesamtes Umfeld von Ausreise, doch aus Ljudmilas Mund verblüffte ihn diese Bitte.
    »Wie kommst du auf Israel, Ljudmila? Wieso Israel?«
    »Weißt du, meine Mutter war unglaublich pedantisch, sie hat nicht das kleinste Papier weggeworfen. Ich habe nach ihrem Tod den Totenschein meiner Großmutter mütterlicherseits gefunden, sie ist schon 1922 gestorben. Sie hieß Barbanel. Alta Pinchassowna Barbanel. Ein berühmtes Rabbinergeschlecht. Mama hat alle Papiere aufgehoben – die Geburtsurkunde der Großmutter und die Bescheinigung über die Namensänderung bei der Eheschließung. Nach der Heirat hieß Großmutter Kitajewa. Auch Mamas Papiere sind alle noch da … Wenn Juden den Namen Barbanel hören, wiegen sie den Kopf und schnalzen vor Freude mit der Zunge.« Sie sprach wie immer mit träger Stimme, völlig ausdruckslos, nur ihr Gesicht mit dem ständigen halben Lächeln wirkte sanft. Ein urslawisches Gesicht, mit rundem Mund und runden Brauen …
    »Wieso Barbanel? Woher kommt das?«
    »Der Name ist verstümmelt, eigentlich heißt es Abrabanel, das ist, wie ich jetzt weiß, ein berühmtes sephardisches Geschlecht, lauter Gelehrte und Talmudisten.«
    »Unglaublich! Ich kapier das nicht! Du – und Israel! Was für ein Irrsinn! Was willst du denn da?« Ilja bebte förmlich.
    »Keine

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