Das gruene Zelt
abstrakte Gedanken beschäftigten ihn selten. Doch wenn er samstags vor den Augen seiner vor Ungeduld hüpfenden Tochter Marinotschka aus seiner Aktentasche ein in ein altes Handtuch gewickeltes Kaninchen an den Ohren herauszog, empfand er dankbare Zufriedenheit. Seine Tochter hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kaninchen, sie war weich und grau, ihre Oberlippe sah ein wenig aus wie die eines Kaninchens, und wo bei dem Kaninchen die weißen Ohren waren, hingen bei ihr hellblaue Schleifen herab. Schade, dass er das nie fotografiert hatte: Marina mit dem Kaninchen …
Dmitri Stepanowitsch gab das Kaninchen seiner Tochter und das Handtuch mit den trockenen Köteln seiner Frau Nina, die es über dem Mülleimer ausschüttelte und zum Waschen ins Bad brachte. In diesem Kaninchenhandtuch reiste das Kaninchen jeden Samstag nach Hause und jeden Montag zurück ins Labor.
Es war jedes Mal ein anderes Kaninchen, irgendeines aus dem Versuchstierkäfig. Aber Dulin nahm natürlich nur eines aus der Kontrollgruppe. Die Versuchstiere waren zwar auch mehr oder weniger gesund, aber es waren Nachkommen von alkoholkranken Müttern, denen der Doktor von klein auf verdünnten Sprit zuführte; dann paarte er sie mit einem alkoholkranken Rammler und beobachtete die Nachkommen. Das war das Thema seiner Dissertation – der Einfluss von Alkohol auf die Nachkommenschaft bei Kaninchen. Denn über den Einfluss von Alkohol auf die Nachkommen bei Menschen wusste die Wissenschaft recht gut Bescheid. Die Laborantin Mascha Werschkowa, über deren Arbeitskraft Dulin zur Hälfte verfügte, kam genau aus dieser Bevölkerungsgruppe: Ihre Augäpfel zitterten oft – Nystagmus –, ebenso ihre Finger – Tremor. Sie war ein Siebenmonatskind, gezeugt von Alkoholikern, aber zum Glück ohne geistige Schäden. Was bewies, dass auch Trinker manchmal Glück haben.
Marina war in dieser Hinsicht nie bedroht gewesen – ihr Vater konnte Alkohol nicht ausstehen, trank nicht einmal Bier, rauchte auch nicht und lebte in jeder Hinsicht gesund. Ihre Mutter trank vielleicht drei Gläschen im Jahr, bei festlichen Anlässen.
Marina schleppte das Samstagskaninchen in ihre Ecke, legte es in ein Puppenbett, tat so, als würde sie es waschen, drückte und küsste es und fütterte es mit Möhren.
Dmitri Stepanowitsch stammte vom Lande, er war an Tiere gewöhnt und ein Dörfler geblieben, bis die wachsende Stadt Podolsk sein hässliches kleines Dorf verschlungen und das dörfliche Leben allmählich zerstört hatte. Allerdings begann das Stadtleben für ihn und seine Familie nicht sofort. Die Fünfgeschosser wurden nach einem verworrenen Plan errichtet, wonach nicht durchweg alle Bauernhöfe abgerissen wurden, sondern nur die, an deren Stelle neue Häuser gebaut werden sollten. Das Haus der Dulins blieb deshalb stehen, doch die bäuerliche Wirtschaft war ruiniert, sie behielten nur die Hühner, Hund und Katze; die Ziege und das Schaf brachten sie zu Großmutters Schwester in ein entferntes Dorf.
Eine Kuh hielten sie zu der Zeit schon nicht mehr.
Der Brunnen neben ihrem Haus wurde aus irgendeinem Grund zugeschüttet, eine Wasserleitung jedoch nicht gelegt. Nun liefen sie zu einer anderthalb Kilometer entfernten Pumpe. So lebte der kleine Dmitri zwischen Stadt und Dorf: Er ging in seinen ärmlichen Dorfkleidern in die städtische Schule, war ein mittelmäßiger Schüler und bildete die verachtete dörfliche Minderheit unter der städtischen Mehrheit.
Die Mutter bestrafte ihn für schlechte Leistungen: Wenn sie die Kraft dazu hatte, schlug sie ihn mit ihren mageren Fäusten, wo sie gerade hintraf, und schrie dazu mit schriller, sich überschlagender Stimme, bis sie selbst umfiel. Viele Jahre später, als Dmitri Arzt geworden war, diagnostizierte er nachträglich bei ihr Hysterie. Ihre Schilddrüse war ebenfalls angegriffen. Doch als Dmitri Diagnosen stellen konnte, lebte seine Mutter nicht mehr.
Auch von Onkel Kolja bekam Dmitri einiges ab – der schlug ihn zwar nicht, zog ihn aber heftig am Ohr, das er geschickt zwischen Daumen und Zeigefinger einklemmte. Es kränkte Dmitri, dass seine Mutter das zuließ. Die Großmutter hingegen nahm ihn in Schutz. Onkel Kolja, ein vom Suff ausgemergelter Dörfler, besuchte viele alleinstehende Frauen; die Großmutter nannte ihn den Zugvogel und verachtete ihn, fürchtete ihn aber auch. Sie starben fast gleichzeitig – Onkel Kolja am Suff, die Großmutter am Alter. Dmitris Mutter war im Gegensatz zu ihrem Sohn ein Pechvogel: Als
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