Das gruene Zelt
Ahnung, es geht nicht um Israel. Eine Einladung habe ich aus Israel, aber wohin ich am Ende gehe, weiß ich nicht. Vielleicht nach Amerika …«
»Na schön, gut … Aber erklär mir bitte, wie du ausgerechnet auf Israel verfallen bist, verdammt!« Ilja konnte sich nicht beruhigen.
»Was gibt es da nicht zu verstehen, Ilja? Ich werde bald fünfzig, ich habe ein schwaches Herz. Meine Mutter ist mit dreiundvierzig an einem Herzanfall gestorben. Ich habe niemanden, bei dem ich Ilja lassen kann. Und dort gibt es gute medizinische Einrichtungen, dort wird man sich um ihn kümmern. Aber hier – was wird hier aus ihm ohne mich?«
Iljuscha kam herein. Er war unproportioniert hochgewachsen und von der Krankheit deformiert: sehr lange Hände mit dünnen, schlaffen Fingern, kleines Kinn und eingefallene Augen … Der arme, arme Junge … Er litt außer an Autismus noch an irgendeinem seltenen Syndrom, als ob der Autismus nicht genügte …
»Ohne mich, ohne mich, ohne mich«, sagte er drohend.
Ljudmila setzte ihn auf einen Stuhl und drückte ihm einen Apfel in die Hand.
»Gute Kliniken, menschlicher Umgang, Pflege – für uns gibt es keinen anderen Ausweg«, sagte Ljudmila ganz ruhig.
»Keinen anderen Ausweg«, wiederholte Iljuscha in unsinnig freudigem Ton.
Noch am selben Abend unterschrieb Ilja das von Ljudmila vorbereitete Papier: Er hatte keine Einwände.
Seinen Sohn sah er nicht mehr oft. Zum letzten Mal, als er die beiden zum Flughafen brachte.
Olga hatte Ilja vor der Fahrt zum Flughafen einen riesigen Plüschteddy gegeben.
»Schenk den deinem Jungen, zur Erinnerung.«
»Ziemlich groß, der Teddy.«
»Na, der Junge ist ja auch ziemlich groß, wenn ich das richtig sehe.«
Ilja hatte seinem Sohn nie Plüschtiere geschenkt, außerdem war der Junge aus dem Alter dafür längst heraus. Iljuscha strahlte beim Anblick des Teddys, riss die Plastikverpackung herunter und presste sein schon vollkommen erwachsenes Gesicht auf den weichen Bauch.
»Der Teddy ist ein Geschenk von Olga und Kostja«, murmelte Ilja und wunderte sich selbst: Wieso nannte er ihm die Namen der beiden, die sein unglücklicher Sohn gar nicht kannte?
»Teddy, Teddy«, freute sich Iljuscha, und sein Vater verzog das Gesicht vor Peinlichkeit und Schmerz.
Ilja war schon in der Nähe der Metrostation Retschnoi woksal, als Ljudmila die Stewardess bat, sich mit Iljuscha in die erste Reihe setzen zu dürfen, wo die langen Beine des Jungen mehr Platz hatten, und während er sich setzte, wiederholte er die letzten Worte, die er in der Heimat gehört hatte:
»Ein gutes Los, ein gutes Los …«
In Amerika rang Ljudmila lange mit sich, bevor sie sich entschloss, Iljuscha in ein Heim zu geben. Sie hätte es vielleicht nicht getan, wäre er nicht mit den Jahren aggressiv geworden, so dass sie nicht mehr mit ihm fertigwurde. Zwei Jahre behielt man ihn im Pflegeheim, dann kam er in eine andere Einrichtung, eine Art Internat, wo er spezielle Lehrgänge absolvierte, die ihn zu einfacher Arbeit befähigten.
Ljudmila besuchte ihn jeden Sonntag. Sie brachte ihm weiße Schokolade mit, die er sehr mochte, und große Flaschen Cola. Für die Fahrt brauchte sie über zwei Stunden – von Brighton Beach, wo sie in einem Haus für sozial Schwache wohnte, bis zu einem entlegenen Teil von Queens. Sechs Jahre lang besuchte sie ihren Sohn jeden Sonntag, und jedes Mal, wenn sie wieder zu Hause war, sank sie auf das Doppelbett, das sie vom Wohltätigkeitsverband Nayana bekommen hatte, schloss die Augen und dankte Gott, dass ihr Junge satt war, es warm hatte und medizinisch betreut wurde. Eines Sonntags kam sie nicht mehr, aber das schien Iljuscha gar nicht zu bemerken.
Das Sozialisierungsprogramm war erfolgreich, nach einem Jahr bekam Iljuscha die erste Arbeitsstelle seines Lebens: Zweimal in der Woche verkaufte er Zeitungen in einem Kiosk, eine Haltestelle von seinem Wohnheim entfernt. Dafür erhielt er zehn Dollar, damit ging er in einen kleinen Laden, wo man ihn kannte, und kaufte sich ein paar Kleinigkeiten – eine Tafel weiße Schokolade, eine Flasche Cola und ein Lotterielos. Er zeigte mit dem Finger auf die Tafel, und der schwarze Verkäufer fragte:
»Schokolade?«
»Schokolade, Schokolade«, antwortete Ilja.
Dann zeigte er auf das Lotterielos, und der Verkäufer reichte ihm das geschlossene Los mit den Worten:
»Hier hast du ein gutes Los …«
»Ein gutes Los«, wiederholte er.
Sein Leben lief gut, er hatte Freunde, mit denen er Zeit vor dem Fernseher
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