Das gruene Zelt
verbrachte. Seit Ljudmila nicht mehr kam, schienen die russischen Wörter fast vollständig aus seinem seltsamen Gedächtnis verschwunden, das viele Verse in einer ihm nun fremden Sprache enthielt.
In der letzten Maiwoche arbeitete Ilja bis zum Mittag im Kiosk, bekam seine zehn Dollar und kaufte sich eine Tafel Schokolade, eine Cola und ein Lotterielos. Das Los war mehr als gut – es brachte den Hauptgewinn, 4,2 Millionen Dollar.
Das Heim, in dem er lebte, war für Bedürftige gedacht. Millionäre hatten darin nichts zu suchen.
Der Millionär aber hatte keine Ahnung von der schwierigen Aufgabe, vor der er nun stand. Laut Gesetz war Ilja geschäftsunfähig. Seine Mutter war tot. Man versuchte, seinen Vater ausfindig zu machen, Ilja Brjanski. Ein langer Schriftwechsel und zahlreiche Anfragen offenbarten, dass er in München lebte. Als seine Spur endlich gefunden war, stellte sich heraus, dass er vor kurzem gestorben war. Die Anwälte machten Iljuschas Stiefbruder Konstantin ausfindig.
Sie schrieben an Kostja, und er kam nach New York. Er erinnerte sich vage, dass Ilja einen Sohn aus erster Ehe gehabt hatte. Die Ärzte informierten ihn über die Krankheit seines Stiefbruders. Bei dessen Anblick erschrak Kostja, ließ sich aber nichts anmerken. Er klopfte dem dürren Riesen auf die Schulter und sagte auf Russisch:
»Hallo, Bruder.«
Der strahlte.
»Hallo, Bruder.«
Kostja zog ein Foto von Ilja aus der Brieftasche.
»Das ist Ilja.«
Iljuscha nahm das Foto in die Hand, und sein Gesicht leuchtete auf.
»Ilja.«
»Ich bin Kostja.«
Iljuscha überlegte eine Weile und sagte dann mit einiger Mühe:
»Teddy.«
Aber Kostja wusste nichts von Olgas Abschiedsgeschenk.
Iljuscha wiederholte noch ein paarmal »Teddy«, dann rezitierte er ein Gedicht.
Wenn ich versunken in Gedanken weitergeh
zum Stadtrand und dort auf dem Friedhof steh,
umringt von Gittern, Säulen, reich geschmückten Gräbern …
Er rezitierte das Gedicht bis zum Schluss.
»Noch eins«, bat Kostja.
Iljuscha legte die Stirn in Falten und förderte aus seinem kranken, aber unermesslichen Gedächtnis das nächste Gedicht zutage.
Er rezitierte lange – alle Lieblingsgedichte seines toten Vaters Ilja, mit dessen Intonation und ähnlicher Stimme.
Kostja schaute den kranken, längst erwachsenen Jungen an, dachte an seinen Stiefvater – der so geistreich gewesen war, so lebhaft und begabt – und überlegte gleichzeitig, dass er nun eine passende Einrichtung finden musste, keine staatliche, sondern eine kommerzielle, für Reiche, dass er die Vormundschaft beurkunden lassen, sich um die Rechnungen kümmern und dieses eigenartige Leben wieder in normale Bahnen bringen musste.
Dann ging er mit seinem neuerworbenen Bruder in ein Café. Der zeigte mit dem Finger auf eine große Beerentorte.
»Möchtest du ein Stück oder die ganze?«, fragte Kostja.
»Die ganze«, antwortete Iljuscha, den Blick schüchtern gesenkt.
Kostja überlegte und fragte noch einmal:
»Willst du die ganze Torte oder ein Stück?«
Iljuscha senkte den Blick noch schüchterner auf seine unglaublich riesigen Turnschuhe und schwieg.
»Verstehe. Du hast deine eigene Logik.« Kostja nickte.
»Logik«, bestätigte Iljuscha freudig und setzte sich an den Tisch wie ein artiges Kind.
Die Serviererin brachte Torte und Cola für Ilja und Mineralwasser mit Eis für Kostja. Es war erst Mitte Juni, aber die New Yorker Hitze hatte bereits eingesetzt, und eine Klimaanlage gab es an diesem schäbigen Ort natürlich nicht.
Ilja verzehrte mit kindlich ernsthaftem Genuss ein Stück nach dem anderen mit einer Plastikgabel. Iljas Kopf sah genauso aus wie der seines Vaters – dunkelbraune Locken mit frühem Grau darin. Auch im Gesicht fand sich eine gewisse Ähnlichkeit, doch sie wirkte eher wie eine Karikatur.
Kostja erinnerte sich mit filmischer Deutlichkeit daran, wie sie einmal zu dritt – er war acht gewesen – an einem See am Feuer zusammengesessen hatten: Sein Stiefvater putzt mit schmutzigen langen Fingern die angebackene Asche von den Kartoffeln, über den See streichen Lichtstreifen in Rosa, Dunkelrot und Gelb von der untergehenden Sonne, seine Mutter mit ihrem leuchtend roten Haar lacht, und auch der Stiefvater lacht, und er, Kostja, ist glücklich und liebt sie für immer und ewig.
Der arme Ilja! Die arme Olga!
Das arme Kaninchen
Doktor Dmitri Stepanowitsch Dulin beurteilte sein Leben, wenn er Zeit zum Nachdenken darüber hatte, als glücklich, ja, unverdient glücklich. Aber
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