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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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langer und zu aufmerksamer Blick.
    »Meinem Alter gemäß. Aber keine besonderen Beschwerden.« Er faltete die über und über mit rötlichen Flecken bedeckten großen Hände über dem Knie.
    Dulin fragte: »Leiden Sie schon lange an Schuppenflechte?«
    »Seit jungen Jahren. Nach dem Krieg hat es angefangen. Während des Krieges hatten die Menschen wenig normale Krankheiten. Die Zeit war nicht danach. Aber nach dem Krieg ging es los: Herz, Magen, Le-eber.«
    Das Wort »Leber« sprach er gedehnt aus, spöttisch. Dulin untersuchte Nitschiporuk, wie er es am Institut gelernt hatte: Augäpfel, Zustand der Haut, der Schleimhäute … schlechte Ernährung, vermutlich Anämie … der Bluttest … natürlich, Anämie …
    »Was für einen Tag haben wir heute, Pjotr Petrowitsch?«, fragte Dulin leise.
    »Einen scheußlichen«, antwortete der Patient kurz angebunden.
    »Wissen Sie das Datum?«, hakte Dulin nach.
    »Ah« – der Patient lachte –, »Sie meinen – Märzember oder so? Heute ist der 22. Juli 1973. Genau zweiunddreißig Jahre und einen Monat nach dem Überfall der faschistischen deutschen Truppen auf das Gebiet der UdSSR.«
    Er schien sich über ihn lustig zu machen, dieser Exgeneral. Nein, das war seine unpassende Art von Humor – Alkoholikerhumor! Aber er war Dulin eher sympathisch. Dulin bat ihn auf die Untersuchungsliege und tastete seinen Bauch ab. Die Leber war vergrößert. Vermutlich alkoholbedingte Fettleber. Bei starker Auszehrung.
    »Wie groß sind Sie? Wieviel wiegen Sie?«
    »Genau sechs Fuß. Mein Gewicht weiß ich nicht.«
    Margarita Glebowna und der Mann an der Tür waren vollkommen reglos. Starr wie Steinfiguren.
    »Gut! Schließen Sie bitte die Augen und führen Sie den rechten Zeigefinger zur Nasenspitze. Jetzt den linken …«
    »Wann sind Sie geboren? Nennen Sie mir bitte Ihr Geburtsdatum.«
    Er lächelte.
    »10. September im Jahr 1910 nach Christi Geburt. Nach julianischem Kalender selbstredend.«
    »Ich verstehe«, erwiderte Dulin munter. »Richten Sie sich immer nach diesem Kalender?«
    »Natürlich nicht. Die UdSSR hat im Februar 1918 den gregorianischen Kalender eingeführt, und alle Daten nach dem 14. Februar müssen vernünftigerweise nach dem gregorianischen Kalender angegeben werden, die davor nach dem julianischen. Logisch, oder?«
    »Ja. Vermutlich«, stimmte Dulin zu. Das mit den Kalendern muss ich mal im Lexikon nachschlagen. Der Kerl ist natürlich sehr gebildet, und die Gebildeten machen immer besondere Schwierigkeiten. Es liegt durchaus gesteigerte Reizbarkeit vor, das kann man verschieden auslegen, auch als Folge von Alkoholentzug. Gut möglich, dass sich da eine alkoholbedingte Paranoia entwickelt. Kommt ganz drauf an.
    »Und Ihr Geburtsort, Pjotr Petrowitsch?«
    »Das Dorf Welikije Topoli im Kreis Gadjatsch im Gouvernement Poltawa. Mein Vater gehörte zur ländlichen Intelligenz, er war Lehrer an einer Volksschule.«
    »Verstehe, verstehe. Und wie sieht es mit Ihrer erblichen Vorbelastung aus, Pjotr Petrowitsch? Hat Ihr Vater getrunken?« Dulin wechselte zum wichtigsten Thema.
    »Ich verstehe auch, Doktor. Er hat getrunken. Mein Vater hat getrunken. Und auch mein Großvater. Und mein Urgroßvater. Und auch ich habe getrunken, wenn man mir etwas angeboten hat.« Er lächelte, lächelte geradezu strahlend. Ein gutes Lächeln – ganz ohne Spott oder verstecktes Gift.
    »Und wann haben Sie damit angefangen, Pjotr Petrowitsch?«, fragte Dulin höflich.
    »Also, daran erinnere ich mich nicht mehr. An Feiertagen bekamen alle was eingeschenkt, auch die Kinder. Mein Vater hat immer zum Essen getrunken, das war ihm heilig – ein Gläschen zum Essen. Und ich gestehe, auch ich achte diesen Brauch.«
    »Trinken Sie auch jetzt noch?«
    Pjotr Petrowitsch lächelte noch breiter.
    »Mein Lieber! Hier schenkt einem keiner was ein! Ich gestehe, Doktor, seit dem Krieg gab es keinen Tag, an dem ich nicht Sprit getrunken habe oder Wodka oder was Gott mir gesandt hat. Das fehlt mir sehr!«
    Dulin fühlte sich irgendwie unbehaglich – Pjotr Petrowitsch gab sich allzu arglos.
    »Sie verspüren ein Bedürfnis danach? Ich meine, einen Drang?«, grub Dulin tiefer.
    »Einen Drang nicht. Aber ein Bedürfnis, das ja. Ein vernünftiges Bedürfnis.«
    »Laut Aussage des Patienten langjähriger regelmäßiger Alkoholmissbrauch, ohne Exzesse …«, schrieb Dulin mit reinem Gewissen.
    Margarita Glebowna, die die ganze Zeit schweigend an der Tür gestanden hatte, war sichtlich unzufrieden – sie

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