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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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dieses Thema zurückkommen: Lager, Hunger, Demütigungen, die Hölle.
    »Sag mal, Edwin, hat Gratschewski dir die Platte mitgebracht?«
    Edwin Jakowlewitsch stutzte, lachte und verließ die Küche. Ja, sie hatten genug geredet.
    Er holte die Cellosonate aus der Aktentasche und legte sie auf den Plattenteller. Vera saß bereits im Sessel in dem Zimmer, das sie symbolisch das große nannten.
    Es war die allererste Interpretation. Später, 1950, hatte Schostakowitsch diese Sonate mit Rostropowitsch aufgenommen und sie gegenüber der ursprünglichen Fassung leicht verändert.
    Weinbergs große Ohren, in denen wie bei seinen Urahnen Haarbüschel wuchsen, schienen vor Spannung zu wackeln. Vera Samuilowna, eine qualifizierte Zuhörerin, war schon früher der Ansicht gewesen, dass Daniil Schafran facettenreicher und farbiger sei als Rostropowitsch. Doch Schostakowitsch kam ihr zu streng und hart vor. Ihr Mann hörte aus dieser Musik etwas anderes heraus: Kompromisslosigkeit, das Drama einer inneren Konfrontation. Die Klavierkadenz im dritten Satz erinnerte an Beethovens späte Sonaten.
    »Ausweglosigkeit. Allumfassende Ausweglosigkeit. Nicht wahr, Vera?«
    Von Weinberg ging Dulin direkt ins Vivarium. Dort stand ein abgeschlossener Schrank, in dem er medizinischen Alkohol aufbewahrte. Er nahm den Halbliterkolben heraus, vermischte in einem Messglas Alkohol und Wasser im Verhältnis 1:1, wie für seine Kaninchen, und trank voller Abscheu die gesamten zweihundert Milliliter. Er schob den Kolben in die Aktentasche, wo er kaum hineinpasste, doch da er mit dem Pfropfen fest und sicher verschlossen war, konnte er ihn auch schräg in die Tasche legen. Dann ging er zur Haltestelle. Die Trunkenheit spürte er erst im Bus. Zu Hause war niemand, Nina holte Marina vom Biologiezirkel im Haus der Pioniere ab, wo man sie nur wegen ihres großen Interesses für die Biologie aufgenommen hatte, obwohl sie eigentlich noch zu klein war – sie war noch kein Pionier.
    Zu Hause trank Dulin noch einmal zweihundert Milliliter verdünnten Alkohol. Widerlich, ekelhaft. Wie konnten sie das trinken? Nun war er richtig betrunken, das Zimmer drehte sich um seinen armen Kopf. Aber einschlafen konnte er nicht. Ein einziger Gedanke saß wie ein Splitter in seinem Gehirn und bohrte und bohrte: Wieso sieben Antworten, was denn noch außer »ja« und »nein«?
    Dann kam Nina und begriff lange nicht, was mit ihrem Mann nicht stimmte. Schließlich merkte sie, dass er stockbetrunken war. Erst lachte sie.
    »Armes betrunkenes Kaninchen!«
    Sie versuchte ihm heißen Tee einzuflößen, ihn schlafen zu legen, aber er wollte nicht schlafen, er faselte lange und zusammenhanglos etwas von sieben Antworten oder sieben Fragen, und erst spät in der Nacht erfuhr sie, warum er so litt.
    Inzwischen hatte Dulin den restlichen Alkohol verdünnt, konnte ihn aber nicht trinken – er musste sich übergeben und bekam Krämpfe. Dann legte er sich hin und bebte und zitterte.
    Nina war es leid, sich um ihn zu kümmern, sie setzte sich auf einen Stuhl und knurrte leise und böse vor sich hin. Ins Bett legte sie sich nicht. Dann kam Marina im Nachthemd herein und klagte, sie habe Kopfschmerzen. Und Dulin erinnerte sich sogleich an alles Schlechte, das ihm im Leben widerfahren war: Wie die Stadtkinder ihn in der Schule verspottet hatten, wie die Lehrerin Kamsolkina ihn angeschrien hatte, wie seine Mutter ihn geschlagen und ihr »Zugvogel« Onkel Kolja ihn an den Ohren gezogen hatte … Er weinte.
    Dulin weinte – weil er ein Kaninchen war und kein Mann.
    Das hatte Nina zu ihm gesagt.

Reise ohne Rückkehr
    Auf Iljas Brust baumelte ein Fotoapparat ohne Film – den hatten die Grenzer herausgenommen und belichtet –, über der Schulter ein halbleerer Rucksack. Er enthielt Wechselwäsche und ein Englischlehrbuch, das er seit zwei Jahren ständig mit sich herumschleppte. Er trug eine neue Wattejacke und alte Jeans. Um den Hals hatte er sich einen Schal geschlungen, den Olga aus schwarzer und weißer Wolle gestrickt hatte, passend zu seinem ergrauenden Haar.
    Vor der Gangway stand eine Schlange; die ehemaligen Sowjetbürger, die über die Hälfte der Wartenden ausmachten, unterschieden sich von den nichtsowjetischen durch ihre schwere, hässliche Kleidung und ihre mehr oder minder deutliche Verwirrung: Ein neben Ilja stehender alter Mann mit Persianermütze hatte einen Schluckauf, eine Frau, die er in der dichtgedrängten Menge nicht sehen konnte, kicherte nervös. Ilja wartete

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