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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Urlaub.« Das klang wie eine Rechtfertigung, und Dulin wunderte sich über sich selbst. »Sie haben dort wohl einen Alkoholiker oder eine Alkoholepisode in einem Fall. Ach, Edwin Jakowlewitsch, in unserem Land trinken doch alle, sogar Schauspieler, Professoren und Kosmonauten. Wir hatten kürzlich …« Dulin erzählte von dem berühmten Schauspieler.
    »Ich war mit einem hochtalentierten Literaten zusammen im Lager. Ein außerordentlich gebildeter Mann. Er hat im Gefängnis Rilke übersetzt, um geistig beweglich zu bleiben. Nun, der Name Rilke sagt Ihnen sicher nichts. Dieser Literat wurde Anfang der dreißiger Jahre hier im Serbski-Institut psychiatrisch begutachtet – er wollte unbedingt als Alkoholiker anerkannt werden. Das wurde er auch. Er wurde nicht eingesperrt, sondern zur Therapie geschickt. Er dankte Gott und las Bücher. Später wurde er allerdings doch noch eingesperrt. Ja, Rilke, Rilke … Da haben Sie die Paradoxa der Zeit: Vor dem Krieg schützte die Psychiatrie vor Verhaftung, und heute sind gerade die psychiatrischen Kliniken …«
    »Dymschiz hat mich zu sich bestellt, er will mit mir reden«, klagte Dulin leise.
    Aber Weinberg schien ihn nicht gehört zu haben. Er drehte sich plötzlich abrupt um.
    »Entschuldigen Sie, ich muss noch in den Buchladen, das habe ich ganz vergessen! Alles Gute!«
    Er entfernte sich rasch in Richtung Metrostrojewskaja.
    Er war verwirrt. Dieser entschlossene junge Mann, der ganz allein einen Brand gebändigt hatte, dieser ein wenig beschränkte und ziemlich ungebildete, aber gewissenhafte und auf seine Weise anständige Mann hatte offensichtlich von ihm einen Rat haben wollen.
    Was konnte man einem solchen Mann raten? Da konnte sich selbst ein Kluger nicht herauswinden. Weinberg ging am Buchladen vorbei. Er musste gar nicht hinein.
    Sein Vater Jakob Weinberg, ein berühmter Berliner Anwalt, hatte nach Hitlers Machtergreifung gesagt: »Als Anwalt suche ich immer nach einem Ausweg, und ich weiß, dass es in jedem Fall immer mindestens einen Ausweg gibt. Meist sogar mehrere. Doch dieses Regime lässt einem keinen einzigen.« Jakob Weinberg starb, ohne zu erfahren, wie recht er damit hatte. Das hiesige Regime ließ dem Menschen auch keinen Ausweg. Keinen einzigen. Es ist immer denen überlegen, die Ehre und Gewissen haben, dachte Weinberg traurig.
    Die Sonderstation befand sich in einem anderen Gebäude, drei Bushaltestellen entfernt. Am Donnerstag um halb elf klingelte Dulin an der abweisend wirkenden Tür. Eine Pförtnerin im weißen Kittel öffnete.
    »Zu wem wollen Sie?«
    Dulin zeigte seinen Sonderausweis.
    »Zur Konsultation. Zu Professor Dymschiz.«
    »Einen Augenblick.« Die Frau nickte und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ein paar Minuten später öffnete eine andere Frau, hochgewachsen und gut frisiert. Sie trug keinen weißen Kittel, sondern ein rosa Kleid.
    Jersey, registrierte Dulin. Ninas sehnlichster Traum. Schade, dass ich sie nicht fragen kann, wo sie das gekauft hat.
    »Wir erwarten Sie schon, guten Tag, guten Tag!« Sie reichte ihm ihre kräftige Hand. »Margarita Glebowna. Ich bin die behandelnde Ärztin. Jefim Semjonowitsch erwartet Sie. Und danach zeige ich Ihnen den Patienten.«
    Ein Flur, Türen – auf den ersten Blick wie auf einer normalen Station. Aber die Flure waren leer.
    Da, eine schwere Doppeltür mit Messingschild. Das Büro beeindruckte durch seine Größe und seine absolute Sterilität. Kein Blatt Papier, kein Staubkörnchen auf der gepflegten Tischplatte. Der Gnom hinter dem Schreibtisch war diesmal fast freundlich.
    »Bitte sehr, Dmitri Stepanowitsch.«
    Dulin setzte sich an einen unbehaglich mitten im Raum stehenden Tisch. Vom Chef trennte ihn ein Meer glänzenden Parketts. Rund drei Meter.
    Wie beim Untersuchungsführer, dachte Dulin. Er hatte schon einmal auf einem solchen einsamen Stuhl sitzen müssen, in einem KGB-Büro. Ein Kommilitone hatte etwas angestellt, Dulin wurde vorgeladen, doch die kundigen Herren dort begriffen schnell, dass er von solchen Dingen weit entfernt war, und ließen ihn laufen.
    Auch Dymschiz hatte zu verschiedenen Zeiten seines Lebens auf einem solchen entfernten Stuhl gesessen. Es hatte ihm nicht gefallen. Aber einen starken Eindruck hinterlassen.
    »Also«, sagte Dymschiz, wobei seine Lippen fast geschlossen blieben. »Wir haben hier einen sehr interessanten Patienten.«
    Plötzlich hielt er einen Papphefter in der Hand. Er winkte aus der Ferne damit.
    Ach, er spielt, dachte Dulin gereizt.
    »Ein

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