Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
Vom Netzwerk:
Leningrad. Dulin versuchte abzuwehren:
    »Eleonora Viktorowna! Ich würde das natürlich gern tun. Aber das geht nicht. Ich habe keine Befugnis.«
    Eleonora Viktorowna richtete ihre Frisur – einen modischen Dutt, der ihren Kopf nach oben und nach hinten vergrößerte – und lächelte erneut.
    »Die Genehmigung für Sie ist schon ausgestellt. Unterschreiben Sie bitte hier.«
    Sie reichte ihm einen Malachitstift aus einer Malachitgarnitur. Dulin griff danach, sich noch immer sträubend.
    »Aber ich habe noch nie an einer derartigen gutachterlichen Stellungnahme mitgewirkt. Karpow ist in zwei Wochen zurück, und Kultschenko ist schon nächsten Montag wieder da.«
    Eleonoras Mund drückte Unwillen aus.
    »Wissen Sie denn nicht, dass jeder diplomierte Fachkollege zu gutachterlichen Stellungnahmen herangezogen werden kann? Daran mitwirken muss? Das sagt unser Gesetz. Und hier geht es nur um ein Konsil.« Eleonora machte eine Pause, die genauso lange dauerte, bis Dulin begriffen hatte, dass Widerstand zwecklos war. Er setzte seine Unterschrift unter das Papier.
    »Am Donnerstag um elf bitte auf der Sonderstation. Ein Ausweis wird für Sie bereitliegen. Und jetzt möchte Sie der Leiter der Sonderstation Professor Dymschiz gern sprechen. Warten Sie hier auf ihn, er ist beim Direktor und kommt gleich heraus.«
    »Ja, natürlich.« Dulin nickte und ahnte Ungutes.
    Er setzte sich auf einen Stuhl, wobei er dessen alarmierend roten Bezug registrierte. Über diesen Dymschiz hatte er schon Übles gehört, aber ihm fiel nicht ein, was.
    Er wartete ziemlich lange. Endlich ging die Tür auf, und aus dem Büro des Direktors kam ein kleiner Dickwanst mit dünnen schwarzen Haaren, die er von rechts über seine weißliche Glatze gekämmt hatte.
    »Jefim Semjonowitsch, hier ist Doktor Dulin, Sie wollten ihn sprechen.« Eleonora stand vor Dymschiz auf.
    Die ältliche Schönheit, einen Kopf größer als er, beugte sich zu ihm hinunter, was ihn noch gnomenhafter erscheinen ließ, doch sie strahlte Angst aus und er Gefahr. Dulins Unruhe wuchs. Etwas an dem, was hier vorging, verstand er nicht, er fühlte sich wie ein Zuschauer, der ein Theaterstück in einer fremden Sprache sieht.
    Niemand hatte Dulin erzählt, dass Eleonora vor dem Krieg mit Dymschiz verheiratet gewesen war, ihn kurz vor Kriegsausbruch wegen eines sehr jungen Mannes verlassen hatte, der dann verschollen war, 1946 zu Dymschiz zurückgekehrt war und ihn nach kurzer Zeit erneut verlassen hatte. Dulin war also zum zufälligen Beobachter einer verworrenen und seltsamen Beziehung geworden.
    Dymschiz lenkte seinen Blick auf Dulin.
    »Ja, ja, gut. Haben Sie schon einmal an einer psychiatrischen Begutachtung mitgewirkt?«
    Dulin hatte Hunderte von Gutachten erstellt, über Alkoholiker natürlich. Doch plötzlich war er verlegen und aus einem unerklärlichen Grund so erschrocken, dass seine Achselhöhlen, sein Rücken und seine Brust schweißnass wurden.
    »Ja, natürlich.«
    Der Gnom taxierte ihn. Sein Urteil fiel wenig schmeichelhaft aus.
    »Ich wollte eigentlich vorher mit Ihnen sprechen, aber jetzt bin ich in Eile. Kommen Sie am Donnerstag um halb elf und schauen Sie bei mir herein, bevor Sie den Patienten untersuchen.«
    Damit ging Dymschiz die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wobei seine kleinen Halbschuhe laut klackten.
    Die kauft er womöglich im Kinderkaufhaus, dachte Dulin gereizt. Und hatte recht. Der Professor hatte Schuhgröße siebenunddreißig.
    Als Dulin kurz nach sieben Uhr abends das Institut verließ, in den Dunst von Angstschweiß gehüllt, begegnete ihm Weinberg. Aufrecht, mager, in einem abgetragenen grauen Anzug mit gesteifter Seidenkrawatte, in eine Wolke von Eau de Cologne gehüllt – elegant wie immer.
    Es liegt natürlich nicht an der Krawatte, dachte Dulin. Er ist von Natur aus so. Hager und sehnig.
    Dulin selbst hatte in den letzten zwei, drei Jahren zugenommen, er aß viel – für seine Mutter, für seine Oma, für den ganzen Hunger seiner Kindheit, der irgendwo in den nur Psychiatern zugänglichen Tiefen saß.
    Sie gingen zusammen zur Metro.
    »Ich muss zum Konsil auf die Sonderstation«, begann Dulin ohne Umschweife.
    Weinberg hob eine Augenbraue.
    »Sieh an. Man erweist Ihnen Vertrauen. Sind Sie Parteimitglied, Dmitri Stepanowitsch?«
    »Natürlich. Ich war doch nach der Fachschule bei der Armee. Da wurden alle aufgenommen.«
    »Ja, ja, die Parteidisziplin. Sie müssen hingehen.« Weinberg lachte trocken.
    »Normalerweise ist Karpow … Er ist im

Weitere Kostenlose Bücher