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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Professor.
    Nun war Dulin vollends verwirrt – er hatte es immer für eine Ehre gehalten, dass Weinberg mit ihm redete, wissenschaftliche Gespräche mit ihm führte, und nun nannte der ihn auf einmal einen Dummkopf. Dulin war furchtbar gekränkt.
    »Aber Edwin Jakowlewitsch, Sie haben mir doch selbst von diesem Rilke erzählt, dass es sein sehnlichster Wunsch war, als unzurechnungsfähig beurteilt und nicht ins Lager gesteckt zu werden … Sie haben doch selbst …«, rechtfertigte sich Dulin stammelnd.
    »Was haben wir selbst? In den dreißiger Jahren gab es noch kein Haloperidol! Kein Aminasin! Kein Stelasin! Das gab es noch nicht! Sie schicken ihn in eine Folterkammer, Dmitri Stepanowitsch. Und nun können Sie gern gehen und mich denunzieren.«
    Er senkte den Kopf und starrte auf die Schallplatte – »Daniil Schafran spielt …«
    Er schwieg, den Mund verzogen. Was für eine Niedertracht … was für eine Niedertracht überall …
    »Und? Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte Dulin mit stiller Verzweiflung. »Er ist doch wirklich … na ja, nicht ganz … also … Was hätte ich denn tun sollen?«
    Doch Weinberg drehte nur die Schallplatte hin und her, dann legte er beide Hände auf den Tisch.
    Weg hier, weg, nur schnell weg, dachte er. Und: Was für ein Volk! Sich selbst so zu hassen!
    Dann lächelte er säuerlich und sagte etwas vollkommen Rätselhaftes:
    »Ich weiß nicht. Ein chinesischer Weiser hat mal gesagt, auf jede Frage gibt es sieben Antworten. Die Antwort auf diese Frage findet jeder selbst. Verzeihen Sie meine Grobheit, Dmitri Stepanowitsch.«
    Vera Samuilowna sah sofort, dass ihr Mann gereizt und niedergeschlagen war: an der schroffen Bewegung, mit der er den Mantel auszog, an seinem mürrischen Gesicht und seinem hölzernen Danke-Nicken, als sie ihm die Suppe hinstellte. Sie war eine kluge Frau und schwieg, behelligte ihn nie mit Fragen, und er war ihr immer dankbar für dieses vornehme Schweigen.
    Edwin Jakowlewitsch bedauerte seinen Ausbruch und empfand nun Reue. Wie hatte er sich erlauben können, diesen netten, einfältigen und eifrigen Mann zu demütigen? Hatte nicht auch er, Weinberg, als er vor Jahren an einer psychiatrischen Begutachtung auf ebenjener Sonderstation beteiligt war, die Unzurechnungsfähigkeit eines Häftlings bestätigt, dessen politische Ansichten zur herrschenden Regierung er voll und ganz teilte? Doch aus klinischer Sicht stand eine psychische Erkrankung außer Zweifel. Ein klares und umfassendes Bild einer manisch-depressiven Psychose. Dagegen konnte er nichts tun, der Exhäftling Weinberg. Sie waren doch fast alle verrückt, die hiesigen Andersdenkenden, Protestler und hausgemachten Rebellen – im umgangssprachlichen und oft auch im medizinischen Sinn des Wortes. Das ist natürlich der russische Radikalismus. Das liegt in seinem Wesen, er stützt sich nie auf den gesunden Menschenverstand, überlegte Weinberg und beruhigte sich allmählich.
    Ohne es selbst zu merken, begann er seine Gedanken auszusprechen.
    »Als Hitler an die Macht kam, sind die zurechnungsfähigen Intellektuellen emigriert, und die loyalen … Es gibt keinen Ausweg, nein, es gibt keinen. Aber ein Arzt ist in einer besonderen Lage – er heilt. Sein Ausweg ist der Beruf. Das Lagerkrankenhaus. Verletzungen, Geschwüre, Tuberkulose, Herzinfarkte. Die Berufsehre steht über allem. Über der Politik. Zweifellos. Zweifellos, aber … Vera, Vera! Alle diese Kämpfer gegen das Regime, die ich gesehen habe, standen auf der Kippe, auf dem schmalen Grat zwischen Gesundheit und Krankheit. Erinnerst du dich an die Frau, die mit ihrem Kind im Kinderwagen auf dem Roten Platz protestiert hat? Es gibt doch einen Selbsterhaltungstrieb. Es gibt einen Mutterinstinkt, der eine Mutter zwingt, ihr Kind zu schützen. Aber es gibt keinen Instinkt der sozialen Gerechtigkeit! Das Gewissen stellt sich gegen das Überleben, Vera!«
    Seine Frau saß ihm gegenüber auf einem Hocker, in ihrer Fünf-Quadratmeter-Küche war kein Platz für einen zweiten Stuhl, dafür gab es darin einen Tisch, einen Herd mit zwei Flammen, einen Heizkörper, der im Winter warm war, und im Sommer üppiges Unkrautgrün unterm Fenster.
    Vera blickte auf die schwarze Fensterscheibe, wo sie jetzt nichts sah als ihr eigenes verschwommenes Spiegelbild. Auch sie wusste, dass das Gewissen sich gegen das Überleben richtete. Ja, die biologische Evolution verdrängte jene, die ein lebendiges Gewissen hatten. Es überlebten die Stärksten. Sie mochte nicht auf

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