Das gruene Zelt
flüsterte mit dem Mann auf dem Stuhl.
»Der russische Mensch kann nicht ohne das, Doktor. Wodka besänftigt die Seele, macht das Leben leichter. Kennen Sie das nicht?«
Da begriff Dulin: Pjotr Petrowitsch wollte sogar zur Therapie eingewiesen werden. Dulin blätterte das Krankenblatt noch einmal sorgfältig durch. Aus den Aufzeichnungen der Ärzte ging hervor, dass Pjotr Petrowitsch die letzten vier Jahre, von 1968 bis 1972, in Haft verbracht hatte, und sein gegenwärtiger physischer Zustand war schlecht. In dem alten Ambulanzgutachten hieß es schwarz auf weiß: »Klares Bewusstsein, in allen Qualitäten orientiert, im Gespräch durchaus vernünftig, zusammenhängende, zielgerichtete Rede.« Er war als zurechnungsfähig eingeschätzt worden. Doch das neue Papier, der Entwurf, den er nun unterschreiben sollte, diagnostizierte eine alkoholbedingte Paranoia. Mit großem Fragezeichen.
Dem konnte Dulin nicht guten Gewissens beipflichten. Er überlegte angestrengt, wie ein Schüler bei einer Klassenarbeit, machte einen inneren Salto und fand die richtige Lösung: Er setzte vor »alkoholbedingte Paranoia« das Wort: »atypische«. Und dieses Wort rückte alles an seinen Platz: ein atypischer Fall! Dieser Pjotr Petrowitsch war nicht verrückt, er war ein Spinner. Aber es konnte nicht schaden, ihn zur Therapie einzuweisen. Immerhin eine medizinische Einrichtung – da würde er genug zu essen bekommen. Jetzt war klar, warum er so freudig von seinem Alkoholkonsum erzählt hatte. Damit deutete er an, dass er nichts gegen eine Therapie hatte. Auch Weinberg hatte ja letztens von einem gewissen Rilke erzählt, der sich sehnlichst wünschte, als unzurechnungsfähig beurteilt und zur Therapie eingewiesen zu werden.
Sie redeten noch eine Weile, und Dulin schrieb leichten Herzens sein abschließendes Urteil: »Es liegt eine alkoholbedingte Schädigung der inneren Organe vor. Das Nervensystem weist eine Reihe von Veränderungen auf: alkoholbedingte Enzephalopathie, retrograde Amnesie. DS – atypische alkoholbedingte Paranoia.«
Dulin setzte seine schöne Unterschrift darunter.
Und sah auf die Uhr – halb drei.
Halb drei, stellte Pjotr Petrowitsch fest. Das Essen hab ich verpasst wegen dieses beschissenen Äskulaps. Vielleicht hat mir die Pflegerin ja was aufgehoben, dachte der hungrige General mit gleichmütiger Unruhe.
Dulin ging auf seine Station, nahm Ninas Brote aus der Aktentasche und goss sich ein Glas Milch ein. Die Stationsköchin hielt immer einen halben Liter für ihn bereit. Er aß, sah zwei Zeitschriften durch, die schon seit langem auf seinem Schreibtisch lagen und in die Bibliothek zurückmussten. Dann ging er zu Weinberg. Die ehemalige Wäschekammer, nun eine Art Büro oder Verschlag, war vollgestopft mit Büchern, überwiegend fremdsprachigen.
Daher hat Weinberg sein ganzes Wissen. Er nutzt seinen Vorteil, dass er Fremdsprachen kann, dachte der einfältige Dulin.
Es war schon gegen Abend, der Arbeitstag der Ärzte war längst zu Ende. Auf Weinbergs Schreibtisch, über den Zeitschriften, Briefe und graue, mit gestochener, gotisch anmutender Schrift bedeckte Blätter verstreut waren, lag eine Schallplatte in einer weißen Papierhülle.
»Daniil Schafran, hat man mir eben gebracht. Eine einzigartige Aufnahme, eine Cellosonate von Schostakowitsch aus dem Jahr 1946, die Uraufführung. Schostakowitsch selbst spielt auch mit.« Der Professor strich mit seiner dunklen Hand mit den langen Fingernägeln zärtlich über die Platte. »Daniil Schafran war damals erst dreiundzwanzig. Ein genialer Cellist, genial …«
So ist dieses Volk, am meisten lieben sie ihre eigenen Leute, dachte Dulin missbilligend, besann sich aber: Was ist denn daran schlecht? Alle Menschen sind so, jedem stehen die eigenen Leute am nächsten.
»Ich komme gerade vom Konsil«, berichtete Dulin. Aber Weinberg schien sich nicht an ihr kürzliches Gespräch zu erinnern. Er wirkte zerstreut.
»Ich hab ihm Alkoholismus bescheinigt. Jetzt wird er wahrscheinlich zur Therapie geschickt.«
»Was?«, fragte Weinberg. »Was sagen Sie da? Sie schicken ihn in eine Spezialklinik?«
»Was macht das für einen Unterschied, Edwin Jakowlewitsch? Er ist unterernährt, ich dachte, in einer Klinik wird er wenigstens aufgepäppelt. Immer noch besser als Straflager.« Dulins gehobene Stimmung wegen der anständig erledigten Arbeit verflüchtigte sich plötzlich.
»Stellen Sie sich nur dumm, Dulin? Oder sind Sie wirklich so ein Dummkopf?«, fragte der
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